Endstation Malma

Alex Schulman

dtv, 12.10.2023

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

320 Seiten, € 24,00

 

 

 

Malma, eine kleine Stadt, einige Stunden von Stockholm entfernt. Ein Zug, in dem drei Menschen zu unterschiedlichen Zeiten durch Schweden nach Malma fahren. 

1976 begibt sich die elfjährige Harriet mit ihrem Vater, ein Fotograf, nach Malma, um dort an einer bestimmten Stelle die Urne mit der Asche des geliebten Kaninchen „Ninchen“, das tragisch zu Tode kam, zu begraben.

2001 reist Oskar mit Harriet dorthin, mal wieder nach einem großen Streit, weil Harriet ihm in Malma etwas zeigen will. Sie lassen ihre Tochter Yana alleine in Stockholm zurück, die zwischen Verzweiflung und Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Eltern wartet, deren Beziehung schon lange nur noch aus bösartigem Streit und gegenseitigen Erniedrigungen besteht.

In der Gegenwart fährt Yana als junge Frau nach Malma, im Gepäck ein Fotoalbum ihrer Mutter Harriet. Ihr Vater Oskar ist gerade in einem Hospiz gestorben, mit dem sie seit 10 Jahren bis auf die Anrufe am Geburtstag, „mit einem Wortwechsel, so gespannt wie die Drahtseile einer Brücke“, keinen Kontakt mehr hatte. Yana hat ein in Malma gemachtes Foto mit ihrer traurig aussehenden Mutter und begibt sich auf Spurensuche an diesem Ort. Alle drei Figuren und deren Leben sind auf schmerzhafte Weise miteinander verwoben.

Alex Schulman gelingt es meisterhaft, die drei Figuren einer Familie in unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven miteinander in einen Kontext zu bringen und dabei jeder Person eine fesselnde Tiefe zu geben. Durch die wechselnden Zeitebenen und den erzählenden Protagonisten entsteht wie ein Mosaik eine komplexe, dicht miteinander verwobene Familienkonstellation, die mit ihrem spannenden Aufbau eine Anziehungskraft ausgeübt hat, die mich nur ungern das Buch aus der Hand legen ließ. Alex Schulmans Sprache ist leise und bestechend klar und trifft in das Herz eines belasteten Familienlebens. Er schenkt dieser Geschichte, in der vermutlich auch persönliche Erfahrungen verarbeitet sind, seinen Figuren eine schonungslose psychologische Tiefe, die sich fernab jeder Sentimentalität bewegt. Der Schriftsteller hat einen sicheren und empathischen Blick für Abgründe, Verzweiflung, Verletzungen und Brüche in Lebensläufe einer Familie, die jede seiner Figuren in sich trägt und die zum zentralen Schmerzpunkt der Erzählung werden. Harriets Eltern konnten nicht miteinander über ihre Gefühle und Belastendes reden und teilten ihre beiden Kinder nach ihrer Trennung auf. Eine unvorstellbare Handlung. Im Focus steht Harriet, die als Kind nicht nur durch diese Trennung mehrere furchtbare und sie traumatisierende Erlebnisse hatte, doch wie Oskar nie lernte, darüber zu reden und sie zu reflektieren. Jeder der beiden trägt die eigenen Verletzungen seiner Kindheit in sich, die insbesondere bei Harriet tragisch sind. Die mittlerweile erwachsene gemeinsame Tochter Yana versteht das Verhalten ihrer Eltern nicht und würde gerne die Gründe dafür kennen, doch auch mit ihr wird nicht gesprochen. Mit jedem Kapitel taucht man immer tiefer in das Leben und in die Gefühlswelt von Harriet (aber auch in die von Oskar und Yana) ein: Wie sie mit ihrer Schwester Amelia und den Eltern aufgewachsen ist, wie sie getrennt wurden, wie sie Oskar kennengelernt hat und in ihrer Beziehung zu Yana. Harriet begleiten durch familiäre Sprachlosigkeit verschiedene Traumata, die sie unbearbeitet durch ihr Leben schleppt und als überforderte Mutter bewusst oder unbewusst an ihre Tochter weitergibt. Doch auch bei ihrem Vater Oskar trifft Yana auf keinen Halt, Liebe und Geborgenheit, sondern erlebt Distanz, Lieb- und Sprachlosigkeit.

Es ist eine düstere Aufstellung einer gefühlsarmen und sprachlosen Familie über Generationen hinweg, die trotz ihrer Verstörtheit alltäglich erscheint und die Alex Schulman mit messerscharfen, tiefgründigen Blick auffächert. Wie ein roter Faden zieht sich bei allen Beteiligten die verzweifelte Suche nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung durch ihr Leben, verbunden mit der Frage, ob und wie die Befreiung dieser familiären Prägung möglich ist, wenigstens für Yana. Trotz aller Melancholie hinterlässt die Geschichte die hoffnungsvolle Botschaft, dass sie nicht alleine ist. Eine wuchtige und grandios erzählte Familiengeschichte, die nachdenklich machend nachhallt.

Nach Alex Schulmans ersten in Deutschland erschienen, großartigen Roman „Die Überlebenden“ hat mich sein letzter Roman „Verbrenn all meine Briefe“  enttäuscht. „Endstation Malma“ ist für mich in seinem Aufbau, der Sprache sowie der psychologischen Ausarbeitung und Verbindung der Protagonisten sein überzeugendster Roman. Chapeau.

Ein stimmiges Cover, dass sich während des Lesens erschließt, rundet das Buch perfekt ab.

Sabine Wagner

 

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