Markus Berges
Rowohlt Berlin, 30.01.2024
288 Seiten, € 24,00
1973, eine Kleinstadt nahe der Ems. Der sechsjährige Ich-Erzähler beobachtet einen Nachbarn, der auf dem Straßenpflaster riesige Bilder malt, die selbstvergessen leider auch auf Zäune und Einfahrten der Nachbarn hinausgehen. Für die Nachbarn ist ganz klar, dass dieser Mann in die „Hülle“ muss, in die psychiatrischen Klinik im Ort.
1986, in dessen Sommer die Tschernobyl-Katastrophe passierte, macht der Ich-Erzähler des Romans seinen Zivil-Dienst in der „Hülle“ und lernt hier die junge Anne Schmidt kennen, die sich selbst zunächst auf der geschlossenen Station eingeliefert hat. Der 19-jährige erzählende Protagonist ist inzwischen übergewichtig, ungelenk und gerade als Gitarrist bei der Band „Het Amalfi Tigers“ (HAT) aufgenommen worden, mit der der erste Gig in Groningen so ganz anders abläuft, wie vorgestellt.
Anne fotografiert gerne und bittet Kuli, wie sie den Protagonisten nennt, für sie die Filme zum Entwickeln in die Stadt zu bringen. Kuli ist fasziniert von Annes Schönheit und doch bizarren Ausstrahlung und es beginnt zwischen den beiden eine zarte Annäherung. Kuli beginnt mit eiserner Konsequenz abzunehmen, denn er schämt sich immer mehr über sein starkes Übergewicht – und will Anne gefallen.
Als bei einem Spaziergang Anne wegläuft und Kuli sie festhalten kann, bittet sie ihn inständig, sie gehen zu lassen. Anne glaubt, mit ihm an ihrer Seite und in der Natur wieder gesund zu werden. Kuli fehlen die Argumente dagegen und da er schockverliebt ist, bringt er Anne nicht wieder zurück in die Klinik, was für beide nicht folgenlos bleibt.
Markus Berges, Jahrgang 1966, präsentiert mit diesem Roman einen unterhaltsamen Rückblick in den Sommer 1986 und in die Mittachtziger, in dem er den Blick auf die damalige Gesellschaft sowie auf psychisch Kranke mit einer konservativen Haltung in Familien wiedererkennbar beschreibt. Mit lockerer Sprache erlebt man die Entwicklung des übergewichtigen Zivildienstleistenden, der sich gegen alle Regeln verbotenerweise in eine Patientin verliebt und mit ihr seine erste große Liebe erlebt. Vor lauter Liebe erlebt er die Tschernobyl-Katastrophe in diesem Sommer nur am Rande. Seine Fluchthilfe für Anne bringt für beide unbedachte Folgen mit sich, für die der junge Mann alleine die Verantwortung tragen muss, damit hadert, aber auch daran wächst. Diese Grundstory ist eingebunden mit den damaligen psychiatrischen Behandlungsmethoden sowie Medikation und wird humorvoll aufgelockert durch die gerade zusammengefundene Rockband HAT mit ihren kläglichen Versuchen, auf der Bühne ihren Platz zu finden, eingebettet mit dem rockigen Sound der Mittachtziger und wilden Partys.
Auch wenn sich die Geschichte zwischen Anne und Kuli für mich an einigen Stellen doch konstruiert bis unrealistisch entwickelt, hat sie mich dennoch bis zum Ende festgehalten. Das liegt sicher auch an dem schmalen Grat, die psychisch Kranken in seiner Story nicht als Mittel zum Zweck zu nehmen oder sie lächerlich darzustellen, den Markus Berges gekonnt balanciert. Es liegt aber sicher auch daran, dass ich 1986 im gleichen Alter wie der Protagonist war und die beschriebene Atmosphäre in Familien, manche Sichtweisen und Einstellungen der Gesellschaft in der damaligen Zeit und natürlich die Ängste aufgrund der Nuklear-Katastrophe aus der Erinnerung nachvollziehen und bestätigen kann.
„Irre Wolken“ ist trotz der ein oder anderen nicht schlüssigen und konstruierten Stelle ein kurzweiliger und nachdenklich machender Coming of age-Roman um eine verbotene Liebe und der Tatsache, Verantwortung für Folgen zu tragen, der wahrscheinlich insbesondere Leser*innen ansprechen könnte, die die Mittachtziger als junger Mensch um die Zwanzig erlebt haben – aber letztlich über alle Generationen hinaus aktuell bleibt.
Sabine Wagner