Mareike Fallwickl
Rowohlt, 16.04.2024
368 Seiten, € 23,00
Mit ihrem zweiten Roman „Dunkelgrün fast schwarz“ wurden die Leser/Leserinnen in Deutschland zum ersten Mal auf die österreichische Autorin, Jahrgang 1983, aufmerksam, mit ihrem aufwühlenden, polarisierenden vierten Roman „Die Wut, die bleibt“ (2022) wurde Mareike Fallwickl einem breiten Publikum durch zahlreiche begeisterte Kritiken bekannt, das Buch wurde als Theaterstück adaptiert und bei den Salzburger Festspielen 2023 uraufgeführt. Auch in ihrem neuem Roman „Und alle so still“ setzt sie sich für die Frau, ihre Rechte und ihre Position in der Gesellschaft ein.
Wer ist in diesem Roman so still und warum?
Die Geschichte beginnt an einem Freitag und endet sieben Tage später wieder an einem Freitag, wobei jeder einzelne Tag seine Bedeutung bekommt.
Die Hauptfiguren sind Elin, Nuri und Ruth. Elin ist eine junge Frau Mitte Zwanzig, die ihr Geld als Influencerin verdient und per Dating-App sich permanent mit Männern zum kurzen Sex verabredet. Für sie ist dieser Sex auch ein kleines Machtspiel, denn es macht ihr besonders viel Spaß, wenn sie die Männer dabei führen kann, die Oberhand behält.
Nuri ist ein 18-jähriger mit Migrationshintergrund. Er lebt bei seinen Eltern in einer runtergekommenen Hochhaussiedlung am Existenzminium. Als Schulabbrecher verdient er mit drei Dienstleistungsjobs als Rider/Fahrradkurier von Essen etwas Geld, was kaum zum Überleben für seine Eltern und ihn reicht, er arbeitet über seine Schichten hinaus als Bettenschieber im Krankenhaus, nachts arbeitet er als Barkeeper und reinigt morgens die Bar komplett durch. Während der Bundeswehrzeit hat er Valentin kennengelernt, der ihm auch den Job in der Bar besorgt hat. Während Valentin in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen ist, bald sein BWL-Studium beginnt und einen guten Stand bei Frauen hat, ist Nuri unsicher, ob er nicht mehr auf Jungs steht, denn seine Beziehungsversuche mit Mädchen sind bisher kläglich. Als Nuri feststellt, dass seine Eltern ihm heimlich sein mühevoll erspartes Geld gestohlen haben, obwohl sie von ihm einen regelmäßigen Zuschuss erhalten, packet er seine wenigen Sachen und haut ab.
Elin kennt ihren Vater nicht, ihre Mutter Alma führt allein ein Hotel und ist stolz auf ihre Unabhängigkeit. Jeden Morgen lässt sich Elin auf der Wasseroberfläche der hauseigenen Therme treiben, genießt die umschließende Wärme und Geborgenheit, ein seltener Moment, in dem sie sich und ihren Körper nahe ist und etwas fühlt.
Als Alma sie eines Morgens aufgelöst bittet, zu ihrer Großmutter Iris zu fahren, da irgendetwas mit ihr nicht zu stimmen scheint, steht Elin vor einem Rätsel: Bis jetzt hatte sie nie Kontakt zu ihrer Großmutter, warum soll sie ausgerechnet jetzt zu ihr fahren, warum fährt ihre Mutter nicht selbst zu ihr? Doch Alma lässt keine Diskussion zu und so fährt Elin los. Sie entdeckt ihre Großmutter in einer großen Gruppe auf dem Boden liegender Frauen in der Einfahrt vor einem Krankenhaus. Sie wollen nicht mehr in ihre begrenzten Funktionen und Rollen als Frau eingeschränkt werden und demonstrieren mit dieser spontanen Liege-Aktion. So lernt Elin nicht nur auf sehr ungewöhnliche Weise ihre Oma kennen, sie begegnet dabei auch Ruth, der Schwester ihrer Mutter, von der sie ebenfalls bis jetzt nichts wusste. Ruth ist Krankenschwester in dem Krankenhaus, vor der ihre Mutter mit vielen anderen Frauen liegend demonstriert. Diese erste Demonstration einer überschaubaren Anzahl von Frauen entwickelt sich rasend schnell zu einer totalen Verweigerung aller Tätigkeiten, die von Frauen gemacht werden. Letztlich weltweit.
Ihre Figuren arbeitet die Autorin mit einer psychologischen Tiefe sorgfältig aus und gibt ihnen mit mehr oder weniger Sympathie einen Identifikationsspielraum. Geschickt verknüpft Mareike Fallwickl die Protagonisten miteinander und baut damit eine sich dynamisch entwickelnde, spannende Handlung auf. Es ist ein feministischer Roman, der zeigt, was und in welchem Umfang Frauen alles leisten können und müssen, wie ihre Rechte und Gleichberechtigung gegenüber Männern heute noch beschnitten werden. Das hebt die Schriftstellerin gekonnt in ihrer ganz eigenen Sprache mit zahlreichen klugen Gedanken und gewohnt polarisierend hervor. Ebenso legt sie erneut überzeugend den Finger in die Wunde der gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Ungerechtigkeiten und Widersprüchen gegenüber Frauen, ohne moralisierend zu wirken.
Ab dem sechsten Tag, dem Mittwoch, bekommt die Handlung mit dem totalen Streik jeder Tätigkeit aller Frauen, die sich miteinander verbinden, ein derart heftiges Ausmaß, dass sich zwar fesselnd liest, mir aber dann zunehmend konstruierter und überzogen dargestellt wird. Es entbrennt ein Krieg zwischen den Männern, die mit brutalen Übergriffen gegenüber den in Häuser verschanzten Frauen ihr Unverständnis über ihr Tun äußern, während die geschundenen Frauen immer mehr für sich einstehen und kämpfen müssen. Dafür findet Elin ihre Liebe, ihre Mutter mit Ruth und Iris einen familiären Neuanfang. Das ist schön, wirkt aber auch leicht gefühlig, ich vermeide hier bewusst das Wort „kitschig“, da es für mich hart daran vorbeischrammt. Nuri holt seine Mutter aus der Knechtschaft ihres Mannes und seines Vaters und gehört zu den wenigen Männern, die auf der Seite der Frauen stehen.
Am Schluss gibt es ein dramatisches Finale, dass zwar in sich schlüssig ist, ich aber dennoch irgendwie bizarr empfand. Wie dieser totale Frauen-Streik letztlich endet und wohin diese totale Verweigerung der Frauen hinführt, bleibt offen. Das kann man so stehen lassen, dennoch fand ich das Ende der Geschichte an diesem Freitag nach den letzten überdramatischen drei Tagen verpuffend enttäuschend, so wie ein voluminöser Luftballon innerhalb weniger Sekunden die Luft verliert und verschrumpelt.
Es hat auf mich den Eindruck gemacht, dass Mareike Fallwickl aus lauter Begeisterung darüber, dass es den Frauen durch ihre Solidarität und Rigrosität gelingt, ihr Ziel zu erreichen, ein wenig über das Ziel hinaus geschossen ist. Aber vielleicht wollte sie auch genau das und hat Dramatik und Übertreibung als Stilmittel eingesetzt?
„Und alle so still“ ist eine bedrückende Geschichte, die zeigt, was Solidarität der Frauen mit einem gemeinsamen Ziel erreichen kann. Es ist ein kluger wie auch spannender Roman, der sich für mich aber im Laufe der Handlung leider zunehmend in Konstruktion verheddert und am Ende ein „quo vadis“ mit zu vielen Fragezeichen offen bleibt. Dennoch ist es Mareike Fallwickl gelungen, ihren starken Roman mit einem sehr schönen, tröstenden Bild abzuschließen, dass mit vereinter Kraft und dem Zusammenhalt der Frauen noch viele Ungerechtigkeiten und eingefahrene Rollen aufgelöst werden können:
„Zwischen den Frauen zu gehen, gestützt und getragen zu werden, erinnert Elin an das Gefühl im Wasser zu sein. (…) Wie gut es ist, dem Schweben so ähnlich. (…) Eine Umarmung, die keine Grenzen hat.“ (Zitat aus dem Buch, Seite 363)
Sabine Wagner