Und Großvater atmete mit den Wellen

Trude Teige

Aus dem Norwegischen übersetzt von Günther Frauenlob

S. Fischer Verlag, ET 27.03.2024

416 Seiten, € 24,00

 

 

 

Auch in Trude Teiges neuem Roman lädt die Enkelin Juni Bjerke den Leser/die Leserin ein, in die Familiengeschichte ihrer Großeltern einzutauchen. Dieses Buch ist problemlos unabhängig vom ersten Teil „Als Großmutter im Regen tanzte“ lesbar. Ein intensiveres und komplettiertes Bild erhält man natürlich, wenn man beide Bücher  liest.  Im vorliegenden Roman geht es um die Geschichte Junis Großvaters Konrad, der für sie mit einer unerschütterlich ausstrahlenden Ruhe ein fester und konstanter Halt in ihrem Leben war und ist.

1943 arbeitet Sverre Bjerke als Funker auf dem unter norwegischer Flagge fahrenden Handelsschiff MS Anitra, begleitet von seinem jüngeren Bruder Konrad, der als Leichtmatrose auf dem Schiff angeheuert hat. Nach dem Tode der Mutter hat Sverre seinem Vater versprochen, auf seinen jüngeren Bruder aufzupassen, was leichtfällt, da die beiden eine gute Beziehung zueinander haben. Das Schiff ist mit Dieselöl beladen auf dem Weg vom Iran nach Australien, als es von den Japanern torpediert wird und untergeht. Die beiden Brüder werden getrennt, Konrad kann sich mit Mühe und Not auf einem kleinen Rettungsboot in Sicherheit bringen. Nach wochenlangen Treiben auf dem Meer wird er mehr tot als lebendig an den Strand von Java gespült, wo er gefunden wird und sich langsam in einem Lazarett erholt. Dort lernt er die junge Krankenschwester Sigrid kennen, die wie er Norwegerin ist, was aber nicht der einzige Grund ist, dass die beiden sich ineinander verlieben. Sigrid gelingt es, den durch das Erlebte und durch die Trennung von Sverre perspektivlosen Konrad wieder neuen Lebensmut zu geben.

„Wusstest Du, dass die Wellen, ganz unabhängig vom Wetter, im immer gleichen Rhythmus an Land schlagen? Das ist fast wie unsere Atemzüge, wenn wir schlafen.“ (Sigrid, Seite 91)

Kaum haben die beiden sich gefunden, werden sie schnell wieder getrennt, da sie in unterschiedliche Arbeitslager interniert werden. Das mit Deutschland verbündete Japan hat weite Teile von Südostasien besetzt, darunter auch Java, wo Sigrid mit ihrer Familie lebt. Sie wird aus dem Lazarett vertrieben und mit ihrer alkoholkranken Mutter Henny und ihrer 10-jährigen Schwester Ingerid in ein Frauenarbeitslager gesteckt, der Vater wurde bereits vorher verhaftet. Konrad kommt in ein Männerlager, das er unter qualvollen Bedingungen wechseln muss. Sigrid versucht ihre Mutter Henny und die kleine Ingerid in dem Frauenlager jeden Tag am Leben zu halten und nicht aufzugeben, was sie oft an den Rand ihrer eigenen Kräfte bringt. Auch sie müssen ihr Lager unter lebensunwürdigen Umständen wechseln.

„Ich tue, was ich tun muss, ich ertrage, was ich ertragen muss, und ich vergesse, was ich vergessen muss, um das alles durchzustehen.“ (Sigrid, Seite 169)

Als Krankenschwester lernt Sigrid wunderbare Menschen wie Dr. Cornelis van Hoosen oder Schwester Magnhild kennen, die sich wie sie, mehr als nur um die Kranken kümmern. Auch Konrad versucht in den Lagern zu überleben, schließt Freundschaften, die sich gegenseitig stützen und nimmt die Kraft aus der Zuversicht auf ein glückliches gemeinsames Leben mit Sigrid nach dem Krieg.

Nach schmerzhaften Verlusten und einer wahren Odyssee sehen sich Konrad und Sigrid wieder, kurz danach kapituliert der japanische Kaiser Hirohito und der Krieg ist beendet, (was aber erst zwei Wochen später in die Lager dringt), freuen sich die beiden darauf, endlich in Norwegen gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Doch es sollte anders kommen und Konrad verliert den Boden unter den Füßen, als er durch einen Zufall auf Tekla Adler trifft und das Leben erneut eine Wendung nimmt.

Trude Teige gelingt es mit einer atmosphärisch dichten Sprache die unglaublichen Zustände und grausam-brutalen Misshandlungen durch die Japaner in den verschiedenen Arbeitslagern auf Java bilderreich darzustellen. Der Roman handelt in einer bewegenden Intensität überwiegend über den unfassbar schwierigen Versuch von Sigrid und Konrad, irgendwie dort zu überleben. Beim Lesen befand ich mich in der Ambivalenz, „Verdauungs-Pausen“ machen zu müssen und gleichzeitig baute die Schriftstellerin eine Spannung auf, die mich immer wieder zurück zum Buch greifen ließ, um die weitere Entwicklung zu lesen. Im Gegensatz zu „Als Großmutter im Regen tanzte“ gibt es hier keine dynamische Entwicklung, dafür bewegt sich die Handlung zu statisch im Leid und Elend des furchtbaren Lagerlebens. Dennoch ist die Geschichte als Entwicklungsroman zu sehen, denn es ist beeindruckend und berührend, wie es Konrad und Sigrid – und auch Tekla – trotz aller traumatisierenden Erlebnisse und am Boden liegend immer wieder gelingt, stark und bei sich zu bleiben. Durch das Erlebte verändert, erfahren die beiden eine Resilienz, die natürlich für den Rest ihres Lebens nicht folgenlos bleibt.                 Heute kann ihre Enkelin Juni im Rückblick ihrer jeweiligen Lebenswege die verschiedenen und doch so ähnlichen Großeltern besser verstehen.

Eine Geschichte, die zwischen 1943 und 1945 spielt, die gerade heute in einer geprägten Zeit von politischer Unsicherheit im eigenen Land, nahen wie fernen Kriegen zeigt und mahnt, zu welch grausamen Verhalten und Taten Menschen in der Lage ist. Zeitlos, wenn er nicht aus der Vergangenheit gelernt hat.

Im Nachwort schreibt Trude Teige:

„Knapp 900 norwegische Männer, Frauen und Kinder waren im Laufe des Zweiten Weltkrieges in beinahe hundert japanischen Gefangenenlagern in Südostasien und Japan interniert. Viele waren Missionare, Geschäftsleute und Matrosen. (…) Wer es nach Hause schaffte, kam in der Regel zu einem Zeitpunkt, als der Rausch des Kriegsendes und der Befreiung sich längst gelegt hatte. Nicht wenige hatten physische oder psychische Schäden erlitten, die sie für den Rest ihres Lebens prägen sollten, und viele fühlten sich nach dem Krieg vom norwegischen Staat verraten. 1951 hat Norwegen offiziell darauf verzichtet, Schadenersatz von Japan für die im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen an norwegischen Staatsbürgern zu fordern. Erst 2001, also 56 Jahre nach Kriegsende, hat das norwegische Parlament Maßnahmen ergriffen, um die betroffenen Kinder, Frauen und Männer finanziell für die Leiden des Krieges und deren Spätfolgen zu entschädigen. Viele der Betroffenen waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Dies ist ein Schandfleck der norwegischen Geschichte.“

Sabine Wagner

 

 

 

 

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