Lutz van Dijk
Queerverlag, ET August 2024
216 Seiten, € 16,00
Lutz van Dijk, 1955 in Westberlin geboren und aufgewachsen, hat sich mit zahlreichen ausgezeichneten Romanen über queeres Lieben und Leben zwischen Vergangenheit und Gegenwart („Verdammt starke Liebe“, „Einsam war ich nie“ oder Kampala – Hamburg“, dieser Roman stand von der Jugendjury auf der Nominierungsliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2021) einen renommierten Ruf als Schriftsteller gemacht. Mit 18 Jahren ging Lutz in die USA, Kanada und Mexiko. Ab 1975 studierte er in Hamburg und wurde Lehrer. 1988 promovierte Lutz über oppositionelle Lehrer*innen in der NS-Zeit und 1991 wurde er in Amsterdam Mitarbeiter des „Anne Frank Hauses“. Jahre später zog er mit seinem niederländisch-chinesischen Mann Perry Tsang nach Kapstadt, wo er ab 2001 mit einer südafrikanischen Freundin „HOKISA“ gründete, ein Zentrum und Zuhause für von Aids betroffene elternlose Kinder. Die Leitung von „HOKISA“ ist inzwischen von jungen südafrikanischen Erzieher*innen übernommen worden, dennoch bleiben Lutz und Perry als beförderte „Großväter“ das Herz der Institution.
In seinem neuen autofiktionalen Roman „Irgendwann die weite Welt“ setzt sich Lutz van Dijk mit Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend kritisch auseinander. In einer leicht zu lesenden Sprache taucht man in die graue, nebulöse Zeit Anfang der 60iger Jahre ein. Die in der Ich-Form erzählende Hauptfigur Jan wächst mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Harald in Berlin-Lankewitz in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus auf, von dem sie auf die Baracken-Siedlung schauen, in der Flüchtlinge untergekommen sind. Der Vater ist Polizist, die Mutter verdient mit dazu, damit die Familie über die Runden kommt. Zuhause gibt es zwischen den Eltern sehr oft lauten Streit, bei dem meist der Vater Türe knallend die Wohnung verlässt und die Mutter sich weinend in einem Zimmer verkriecht und oft an Migräne leidet. Dennoch versuchen die Eltern den beiden Söhnen auf ihre Weise ein liebevolles Aufwachsen mitzugeben. Während der ältere Bruder Harald sich mit Musik in eine andere Welt flüchtet, fühlt sich der kleinere Jan hilflos und allein.
In der Schule verteilen noch Nazi-Lehrer Ohrfeigen und „lehren“ mit militärischem Ton und Habitus. Bereits in der Grundschule bemerkt Jan, wie faszinierend und anziehend er Jungs und Männer findet, kann diese Gefühle aber nicht einordnen oder benennen. Gleichzeitig wird er mit abstoßenden und diffusen Bemerkungen und Umschreibungen über „so sein“, respektive Homosexualität konfrontiert, die er nicht versteht. Jedenfalls muss das „so sein“ furchtbar sein, wenn man sich deswegen umbringt, wie Jan es in seiner Familie erlebt.
Anton, ein schmächtiger Junge, der in seinem Hochhaus wohnt und mit Jan in die gleiche Grundschulklasse geht, empfindet für ihn ebenfalls mehr als nur Freundschaft und beide tauschen zaghaft Berührungen und Zärtlichkeiten in ihrem Rückzugsort im Keller des Hochhauses miteinander aus. Obwohl Jan merkt, dass er auf Jungs und nicht auf Mädchen steht, weil er auch versucht, Zärtlichkeiten mit einem Mädchen auszutauschen, weiß er nicht, wie er zu sich und seinen Gefühlen stehen soll, wenn die Außenwelt nur ablehnend, brutal und erniedrigend auf ein Anderssein reagiert.
Lutz van Dijk berührt mit seiner klaren, direkten und auch humorvollen Sprache, die an keiner Stelle anklagend ist, mit der er seinen steinigen Weg der Selbstfindung und Selbstakzeptanz in der grauen, vorurteilsbelasteten und engstirnigen Nachkriegszeit und Mauerstadt Berlin erzählt. Er beschreibt einfühlsam, wie schwierig, demütigend und leidvoll es damals war, sich „offen“ zu seiner Homosexualität zu bekennen. Dennoch gab es auch hier (wenige) Menschen, die für gleichgeschlechtliche Liebe keine Verurteilung hatten. Doch das reicht Jan nicht und er will über den Tellerrand hinausschauen. Er stellt als Heranwachsender fest, dass ihm sein Elternhaus, West-Berlin und seine Umwelt zu eng ist und geht mit Mut und Fernweh die weite Welt, was in stärker, selbstbestimmter und freier macht.
Ein herausragender und einzigartiger Roman über queere Liebe als Heranwachsender im Nachkriegsdeutschland, der nachhallt. Großartig!
Sabine Wagner