Charlotte Roth
Droemer HC, 03.03.2025
432 Seiten, € 18,00
Die Autorin Charlotte Roth nimmt uns mit in den Lebensabschnitt der bis heute unvergessenen, melancholischen Großstadtlyrikerin Mascha Kalèko von ihrer Geburt 1907 bis in das Jahr 1938, in dem sie mit ihrem zweiten Ehemann Chemjo Vinaver und dem gemeinsamen Sohn Evjatar in die USA emigrierte, da sie wie ihr Ehemann jüdischen Glaubens war.
Charlotte Roth gibt in einem Vorwort zu, dass sie sich auf unerklärliche Weise mit Mascha Kaléko verbunden fühlt, nicht zuletzt auch, weil sie beide, wenn auch von einem halben Jahrhundert getrennt, in der Bleibtreustraße in Berlin-Charlottenburg jede für sich bedeutende Jahre verbracht haben.
„Ich erzähle nur das, was ich zu wissen glaube, was sich anfühlt, als hätte sie es mir anvertraut, als hätten wir es geteilt, im Sand des Spielplatzes, in dem wir unsere Kinder mit Eimer und Schaufel niedersetzten, damit sie spielen konnten und wir reden.“ , so die Autorin dieses Buches. „Dafür bitte ich um Verständnis. Was sie zu lesen bekommen, ist nicht Mascha Kalékos Geschichte, sondern meine Geschichte von ihr, in der ich aus dramaturgischen Gründen Ereignisse ein wenig verschoben und aus persönlichkeitsrechtlichen hier und da einen verbürgten Menschen durch eine nachempfundene Figur ersetzt habe.“ (…) (Charlotte Roth, Seite 12)
Im Jahr 1907 wird Mascha Kaléko als Golda Malka Aufen am 07. Juni als ein sehr schwaches Baby in Chrzanów in Galizien unehelich geboren. Die Hebamme legte sie ihrer Mutter Roza in die Arme mit den Worten „die macht’s nicht lang.“ 1914 emigrierte Roza mit ihren Töchtern nach Deutschland, um dem ersten Weltkrieg zu entkommen. Der jüdisch-russischer Vater Fischel Engel, der als Kaufmann unterwegs war, erkannte sie und die 1909 geborene Schwester Lea erst 1922 offiziell mit dem Familiennamen Engel an, als er die Mutter beider Kinder Roza Aufen heiratete.
Maschas jüngere Schwester Lea war und blieb das Lieblingskind der Mutter und Mascha hatte es ihr Leben lang schwer, von ihrer Mutter gesehen zu werden, die sie immer als schwieriges, störrisches und schwer erziehbares Mädchen behandelte. Doch schon in der Volksschule in Frankfurt zeigte sich Maschas außergewöhnliches sprachliches Talent. 1918 zog die Familie von Frankfurt nach Berlin, wo Mascha aufgrund ihrer Befähigung gerne studiert hätte, der Vater aber der Meinung war, dass sie eine Ausbildung machen müsse. Er hatte ihr eine Ausbildungsstelle als Kontoristin beim Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisation in Deutschland versorgt, die sie wenig begeistert 1925 begann. Ein Jahr später lernte sie den zehn Jahre älteren jüdischen Philosophie- und Hebräisch-Lehrer Saul Kaléko kennen, mit dem sie zunächst eine platonische, dennoch sehr innige, nahe Freundschaft verband, die von außen betrachtet ungewöhnlich schien. Während Mascha jugendlich rastlos war und sich gerne wie ausgiebig in das Berliner Nachtleben stürzte, zog Saul die Stille und Zurückgezogenheit vor. Ausflüge in das nächtliche Berliner Bohèmeleben waren für ihn mehr anstrengend als eine willkommene Abwechslung oder Genuss. Dennoch hatte die Seelenverwandschaft und die zärtliche, aufmerksame Umsorgung von Saul die junge Mascha angezogen und beeindruckt, so dass sie zaghaft auch eine Art Liebespaar wurden und 1928 heirateten. Ende der zwanziger Jahre wurde Mascha auch immer regelmäßiger Gast im Künstlerlokal „Romanisches Café“ in Berlin-Charlottenburg, wo sie nur kurz den „Nichtschwimmerbereich“ streifte, der dem gewöhnlichen Publikum vorbehalten war, während die Künstler wie Ringelnatz, Tucholsky, Hermann von Wedderkorp, Laske-Schüler und viele andere bekannte Künstler und Künstlerinnen dieser Zeit sich im „Schwimmerbassin“ trafen und Mascha mit Charme, Witz und Präsentation ihres literarischen Könnens schnell eine unter ihnen war.
Ihr erstes Gedicht wurde 1929 in der Kulturzeitschrift „Der Querschnitt“ veröffentlicht und sie machte sich damit bereits einen hervorragenden Ruf als heiter-melancholische Dichterin, die mit sicherem, eigenen Ton das Leben der Menschen im Berlin dieser Zeit spiegelte. Schnell gab es weitere Aufträge, beispielsweise im „Küka“, dem Künstlerkabarett. 1933 nahm Ernst Rowohlt sie in seinem Verlag unter Vertrag auf, in dem sie ihr bis heute bekanntes Büchlein „Das lyrische Stenogrammheft“ veröffentlichte, 1934 gefolgt von „Das kleine Lesebuch für Große“. Mascha war glücklich über ihre Erfolge als Dichterin, doch spürte sie auch die Auswirkungen der Nationalsozialisten und baute sich 1933 und 1934 durch eine Ausbildung für Werbungs-Texte an der Reimann-Schule in Berlin ein zweites Standbein auf.
Da die Nationalsozialisten 1933 bei der Bücherverbrennung noch nicht wussten, dass Mascha Maléko Jüdin war, entkam sie zunächst einem Veröffentlichungsverbot. Doch es dauerte nicht lange, da wurden auch ihre Werke und Bücher verboten, dennoch konnte sie noch durch Auftragsarbeiten der Werbetexte, die sie ebenfalls auf einem hervorragenden Niveau ablieferte, ihren Unterhalt und den ihres Mannes Saul sichern, der ebenfalls nicht mehr arbeiten durfte. Saul erkannte die politische Situation und Verfolgung der Juden und regte eine Emigration an, wovon Mascha nichts wissen wollte. Sie brauchte Berlin zum Leben, auch wenn es schon lange nicht mehr das Berlin war, das ihre schriftstellerischen Arbeiten mit Kunst und Kreativität genährt hatte. Während dieser sehr belastenden, angsterfüllten Zeit lernte sie den 1900 in Warschau geborenen jüdischen Komponisten und Dirigenten Chemjo Vinaver kennen. Die beiden waren sich in der Vergangenheit immer wieder mal flüchtig begegnet und aus einem erneuten Wiedersehen entwickelte sich eine leidenschaftliche Affäre, aus der der gemeinsame Sohn Evjatar gezeugt wurde. Lange hielt Mascha die Affäre und die Tatsache, dass Saul nicht der Vater eines von ihm so sehr gewünschten Kindes war, geheim. Zum einen, weil sie nicht wusste, wie sie dem immer so zugewandten, versorgenden Saul dies beibringen sollte, zum anderen, weil ihr klar war, dass ein Zusammenleben als Familie mit einem Säugling mit dem eigensinnigen und nur der Musik verschriebenen Chemjo unvorstellbar war. Doch dieses Verschweigen, die hasserfüllte Atmosphäre gegenüber der jüdischen Bevölkerung und dem nicht mehr Schreiben und Veröffentlichen dürfen, machte Mascha so krank, dass sie irgendwann Saul nicht mehr weiter belügen wollte und konnte und ihm die Wahrheit eröffnete, die er dagegen schon lange ahnte und sich bewusst war. Im Januar 1938 ließen sich Saul und Mascha scheiden, ein paar Tage später heiratete sie Chemjo Vinaver, behielt aber den Namen Kaléko als Künstlernamen bei.
Obwohl lange Zeit Mascha und Chemjo sich trotz der immer krasser werdenden Judenfeindlichkeit sich nicht vorstellen konnten, Berlin zu verlassen, da sie die Atmosphäre der Stadt für ihre Arbeiten als unentbehrlich glaubten, wurde ihnen bald klar, dass sie fliehen mussten, damit auch ihr kleiner Sohn eine Zukunft haben konnte. Im September 1938 emigrierten die Drei in die USA, wo ein neuer Lebensabschnitt für sie begann und das Buch endet.
Charlotte Roth erzählt mit sehr viel Zugewandtheit und Wärme vom Elternhaus, dem Aufwachsen und der Entwicklung der kleinen Golda Malka Aufen, die schon als Kind überzeugend den Namen Mascha für sich bestimmt. Sie lässt die Atmosphäre des bunten, freien Berlins der zwanziger Jahre mit seinem schillernden Bohème-Leben, den Künstlerlokalen, allen voran dem „Romanischen Café“ bilderreich aufleben und man fühlt sich beim Lesen in diese Zeit zurückversetzt. Die doch scheinbar überwiegende platonische Ehe zwischen Saul und Mascha hat durchaus ihre Längen, man hat irgendwann verstanden, dass sie eine besondere war, was nicht an dem Altersunterschied von 10 Jahren lag, sondern dass es zwei völlig unterschiedliche Charaktere und Leidenschaften waren, die sich zunächst anzogen und ergänzten, aber beiden klar war, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem diese Art des Zusammenseins nicht mehr funktionieren würde. Nachfühlbar herausgearbeitet hat die Autorin den beeindruckenden starken Willen und Selbstbestimmtheit Maschas, mit ihrer dichterischen Sprach- und Schreibkunst unbedingt bekannt und wenn möglich auch erfolgreich zu werden, was ihr beides gelang. Ebenso ihre Weitsicht und Cleverness, sich mit einer Ausbildung zur Werbetexterin ein zweites Standbein zu sichern. Die Zerrissenheit von Mascha Kaléko über ihre Dreiecksbeziehung mit verschwiegener Vaterschaft wird schnörkellos beschrieben, auch wenn man es moralisch nicht unbedingt nachvollziehbar ist.
Die Liebe oder vielmehr die Lieben von Mascha Kaléko zwischen den Jahren 1926 und 1938 umschließt in diesem Buch die Liebe zur Sprache und zum Schreiben, die mehr oder weniger platonische Liebe zu dem Philosophen und Hebräisch-Lehrer Saul Kaléko, gefolgt von der nicht einfachen, streitbaren und dennoch bis zu seinem Tod gebliebenen intensiven Liebe zu dem Komponisten und Dirigenten Chemjo Vinaver und natürlich zu ihrem gemeinsamen geliebten Sohn Evjatar. Einziger Wermutstropfen bei dieser überwiegend kurzweiligen, atmosphärisch starken und bilderreichen Geschichte einer bis heute beeindruckenden Dichterin ist der, dass ich gerne gelesen hätte, wie ihre Lieben nach 1938 in den USA mit ihren Werken und ihrer Familie weitergegangen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass diese talentierte, dynamische, autonome Frau auch in ihrem späteren Lebensabschnitt noch viel interessantes und bewegendes zu erzählen hatte.
Am Ende des Buches ist ein Glossar zur Erklärung zeitgeschichtlicher Begriffe und Einrichtungen.
Das Cover zeigt leider kein Foto von Mascha Kaléko, ist aber dennoch stimmig zum Roman.
Sabine Wagner