Marcin Szczygielski
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
Fischer Sauerländer, 19.02.2015
288 Seiten, € 13,99
ab 10 Jahren
Rafal, 8 Jahre alt, lebt mit seinem Großvater um 1942 in einem Teil des jüdischen Ghettos in Warschau. Seine Eltern sind irgendwo in Afrika, so hat es sein Großvater ihm erzählt und Rafal hofft, dass es den beiden besser geht als ihm und seinem Opa und er bald zu ihnen kann. Früher war der Großvater ein berühmter Violinist, jetzt versucht er mit seinem Spiel den Enkel und sich über Wasser zu halten. Rafal darf nicht mehr in die Schule gehen und verbringt seine Zeit am liebsten in der Bibliothek. Er darf mittlerweile sogar alleine dorthin gehen, obwohl der Weg lang und nicht ungefährlich ist. Rafal liest alles, was ihm in die Hände fällt; am liebsten aber Bücher über Erfindungen und ferne Zukunftswelten. Eines Tages gibt ihm die Bibliothekarin „Die Zeitmaschine“ von H.G. Wells mit nach Hause. Rafal taucht völlig in dieses Buch ein und flieht damit aus der Realität. Manches findet er durchaus beängstigend, anderes scheint ihm dagegen seltsam vertraut. Rafal stellt Parallelen aus der fiktiven Zukunft mit der Gegenwart fest, was ihn verblüfft. Für ihn sind die Eloi aus der Geschichte die Juden und die SS-Männer die Morlocken. Wie in dem Buch gab es zunächst keine sichtbaren Unterschiede zwischen den Eloi und Morlocken und Rafal fragt sich, ob er nicht gerade den Beginn eines neuen Eloi- und Morlockzeitalters erlebt.
Als der Großvater merkt, dass seine Kräfte schwinden und er sich nicht mehr lange gut um seinen Enkel kümmern kann, schafft er es mit Hilfe von anderen, ihn aus dem Ghetto zu schmuggeln. Während der gefährlichen Flucht lernt Rafal andere Menschen kennen, denen er trauen muss, ohne sie zu kennen. Ausgerechnet jetzt wird Rafal krank und er muss damit klar kommen, eine Zeitlang alleine in einem Versteck auszuharren. Die Nazis kommen ihm auf die Spur und die Gefahr der Entdeckung ist groß. Realität und Fiktion aus seinem geliebten Buch verschwimmen, was ihn in lebensgefährliche Situationen bringt. Doch die Freundschaft der anderen Fliehenden, Loyalität und letztlich auch die Liebe zur Literatur lassen Rafal auf eine bessere Zukunft hoffen und überleben.
Marcin Szczygielski lässt den Leser aus der Sicht des achtjährigen Rafal in das grausame Leben im Warschauer Ghetto eintauchen. In einer bilderreichen Sprache beschreibt er detailliert sein Viertel, durch das man wie in einem Film wandert. Das Leben wird beherrscht durch Hunger, Armut, furchtbare Umstände und Gängelei. Aber auch mit dem Bemühen, so lange wie möglich so etwas wie einen „Alltag leben“ zu können. Die Hoffnung, auf eine bessere Zukunft lässt die Menschen näher rücken. Mit dem literarischen Element der Zeitreise von H.G. Wells verbindet der Autor verschiedene Zeitebenen: den Holocaust mit einem Sprung in das Jahr 2013 und wieder zurück in die Vergangenheit um 1942. Raffiniert wie mutig, denn die Gefahr besteht, sich mit den Zeitreise vom Kern des Geschehens zu entfernen. Doch Szczygielski meistert dies intelligent und einfühlsam, ohne jüngere Kinder mit den Gräuel der Judenverfolgung zu überfrachten oder zu verharmlosen. Dabei spannt er einen klug durchdachten Handlungsbogen, der bis zur letzten Seite fesselt. Rafal muss lernen, anderen Menschen zu vertrauen, ohne sie näher zu kennen. Er begegnet anderen Jugendliche, die ebenfalls auf der Flucht sind und zusammenhalten, auch wenn ein Loslassen manche Situationen einfacher machen würden. Doch Freundschaft, Loyalität , Ehrlichkeit und Zusammenhalt sind die Werte, ohne die ein friedliches Leben nicht möglich ist.
Eine packende, bewegende Geschichte, die klug den grausamen Holocaust und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft durch die Liebe zu einem besonderen Buch verbindet. Eine Liebe, durch die das Abtauchen in andere Welten die Realität ertragen lässt, aber auch gefährlich werden kann, wenn man sich zu sehr darin verliert. Doch für Rafal birgt sie vor allem Kraft zum Überleben.
Thomas Weiler hat die Geschichte wunderbar ins Deutsche übertragen.
Das Cover ist stimmig, bis auf das merkwürdig einfältig wirkende Gesicht des kleinen Jungen, was so gar nicht passt.
Die Geschichte wurde mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis ausgezeichnet wie von der polnischen IBBY als Buch des Jahres 2013 ausgewählt. Man darf gespannt sein, ob dieser empfehlenswerte Roman auch bei uns auf einer Nominierungsliste wiedergefunden wird.
Sabine Hoß
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