Anne Tyler
Kein & Aber, März 2015
452 Seiten, € 22,90
Erwachsenen-Belletristik
Die Geschichte der Familie Whitshanks ist nicht die erste Familiengeschichte von Anne Tyler, die wie ihre Buchfamilie in Baltimore lebt und derzeit zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen in den USA zählt. Über mehrere Generationen hinweg entblättert sie das Bild einer typisch amerikanischen Familie, die nach außen hin das Bild einer perfekten, harmonischen Familie geben will. Abby und ihr Mann bilden die Eltern Whitshanks, die über Jahrezehnte verheiratet sind und zu denen vier erwachsene Kinder gehören. Abby war Sozialarbeiterin und arbeitet ehrenamtlich auch noch im Alter, Red ist, wie sein Vater, ein begabter Handwerker und hat eine Holzfirma. Von den vier Kindern rücken Denny und Stem in den Focus. Denny ist das schwarze Schaf der Familie. Unzuverlässig, immer auf dem Sprung, nie etwas durchhaltend wandert er als Lebenskünstler im Land herum. Stem, der eigentlich Douglas heißt, wurde als Pflegekind aufgenommen und ist im Grunde viel mehr ein Whitshank als der leibliche Denny. Zentrum der Familie ist eine große Villa, in dem bereits Red mit seiner Schwester groß geworden ist.
Im ersten Teil kommen die vier Kinder zusammen, weil sie glauben, dass ihre Eltern, vor allem Abby, immer mehr körperlich wie geistig abbauen. Da sie der Meinung sind, dass ihr Vater mit der Situation überfordert ist, beschließen sie, dass ein Teil der Geschwister in das Elternhaus einzieht, um die Betreuung zu unterstützen. Die Geschwister reiben sich, da jeder andere Ansichten vertritt, wie die Hilfe für die Eltern aussehen soll. Als Abby durch einen Unfall plötzlich stirbt, erübrigt sich die Frage, ob sie wirklich so tüdelig gewesen ist, wie angenommen oder es ein tragisches Unglück war.
Im zweiten Teil macht die Autorin eine Rückblende in die Vergangenheit und erzählt, wie Abby und Red sich kennen- und lieben gelernt haben. Aus dieser Rückblende lassen sich einige Verhaltensmuster und Eigenheiten der beiden in der Gegenwart besser nachvollziehen.
Im dritten Teil geht es noch ein Stück weiter zurück und man erlebt, unter welchen Umständen Reds Vater Junior und Linnie Mae ein Paar und später heiraten und eine Familie gründen. Als vielseitig begabter Handwerker verliebt Junior sich in das spätere Familienhaus, das er zunächst für einen Kunden und trotzdem insgeheim für sich nach seinen ganz eigenen Vorstellungen baut. Im vierten und letzten Teil löst sich die Familie im Zentrum des Hauses langsam auf, da Red als Witwer hier nicht mehr länger leben will. Er zieht in eine kleine Wohnung, das Haus soll verkauft werden.
Die Frage, warum die Geschichte den Titel „Der leuchtend blaue Faden“ trägt, beantwortet Anne Tyler erst auf den letzten Seiten, wo Denny, das schwierigen Problemkind, eine ganz bestimmte Rolle leuchtend blauen Garns für sich als tröstenden und verzeihenden Liebesbeweis seiner Mutter annimmt.
Anne Tyler rollt eine imposante Familienchronik mit intensiven, geschliffenen und verästelnden Figuren auf. Man rutscht als ein von außen beobachtender Zuschauer in diese Familie hinein, ärgert sich, wundert sich, ist fassungslos und möchte manchmal nur schreien, angesichts der sich offenbarenden Szenarien. Obwohl die Autorin sehr detailverliebt das Panorama einer Familie über Generationen hinweg ausbreitet, verzichtet sie auf schwülstige oder unglaubwürdige Entwicklungen. Vielmehr überzeugt sie mit authentischen Familienkrisen und Auseinandersetzungen und Wendungen, die faszinierend vielschichtig und unglaublich fesselnd sind.
Man fällt in diese Familie hinein und legt nur ungern nach knapp 450 Seiten das Buch aus der Hand. Das Ende bleibt offen, wie im richtigen Leben, in einer richtigen Familie.
Sabine Hoß
Bewertung: