Ami Polonsky
Aus dem Amerikanischen von Petra Koob-Paws
288 Seiten, € 15,00
cbj, Juni 2019
Ab 12 Jahren
„Wenn Du ein Dreieck zeichnest und dann einen Kreis an die Spitze, erkennt niemand, dass es ein Mädchen in einem Kleid ist. Ich betrachte die Zeichnung am Rand meines Schulhefts. Keiner soll ahnen, dass es eine Prinzessin sein könnte. Aber ich habe es gut gemacht – niemand wird sie erkennen. Ich würde das Kleid gerne silbern ausmalen, doch das geht nicht, weil Jungs so etwas nicht tun.“ (Zitat aus dem Buch)
Heimlich Prinzessinnen zeichnen, damit träumt sich der 12-jährige Grayson in eine Welt, in der er sich wohl fühlt. In dieser Welt träumt er sich in Kleider, Röcke und allen Sachen, die meist Mädchen mögen. Seit dem tödlichen Autounfall seiner Eltern lebt er in der Familie seines Onkels Evan und Tante Sally, dem etwas älteren Cousin Jack und dem jüngeren Brad in Chicago. Obwohl sich die Familie um ihn kümmert, fühlt sich Grayson ausgegrenzt und alleine. Das ist in der Schule nicht anders. Auch hier ist er ein Einzelgänger, der seine Pausen nicht gemeinsam mit anderen Kindern in der Kantine verbringt, sondern sich in die Bibliothek zurückzieht. Nur bei seinem Lieblingslehrer Mr. Finnegan, der auch Literatur unterrichtet, fühlt sich Grayson wohl und ernst genommen. Grayson weiß, dass er anders ist, als andere Jungs und schämt sich deswegen. Er weiß nicht, mit wem er sich darüber unterhalten soll, dass er Mädchenkleider liebt und Dinge schön findet, die Jungen albern und doof finden. Als Amelia neu in die Klasse kommt, freundet sie sich mit Grayson an. Gemeinsam fahren sie immer wieder mit dem Bus zu einem Second Hand Shop, in dem Grayson bisher alleine nach Kleidung Ausschau gehalten hat, die ein wenig nach Mädchen ausschaut, die er aber trotzdem als Junge anziehen kann – auch wenn sie damit nur ein schlechter Kompromiss zu den ersehnten Kleidern und Röcken ist.
Wie in jedem Jahr wird im Frühjahr in Graysons Jahrgangsstufe ein Theaterstück aufgeführt. Dieses Jahr ist „Die Sage der Persephone“ und Grayson ist sofort fasziniert, denn er ist begeistert von der Welt der griechischen Götter und Literatur. Es ist für ihn ganz klar, dass er vorsprechen wird. Und es gibt nur eine einzige Rolle, die er vortragen will – die der Persephone. Allerdings braucht er eine Weile, bis er sich tatsächlich traut, seine Traumrolle vorzusprechen und damit sein wahres Ich mit der weiblichen Figur zu zeigen. Sein ihm zugewandte Lehrer Mr. Finnegan spricht ihm Mut zu und er bekommt die Rolle. Endlich weiß er sicher, dass er wie ein Mädchen fühlt und sich – zumindest erst einmal in dieser Rolle – im Rampenlicht endlich öffentlich als Mädchen zeigen kann. Grayson hat allerdings nicht damit gerechnet, dass er wenig Unterstützung von seiner Tante Sally und seinem Onkel Evan bekommt, wobei sein Onkel versucht ihn zu verteidigen. Seine Tante ist der Meinung, dass Mr. Finnegan nicht das Recht hat, Grayson diese Mädchenrolle zu geben, da er ihrer Meinung nach die Folgen nicht überschauen kann. Mehr Zuspruch erhält er von den Kindern, die in dem Theaterstück die anderen Hauptrollen besetzen. Sie finden es mutig und klasse, dass Grayson sich das traut und nehmen ihn wohlwollend auf. Natürlich gibt es auch Hetzer, die versuchen, Grayson zu erniedrigen und schikanieren. Als er nach dem Tod seiner geliebten Grandma Alice von ihr über seine Tante und seinen Onkel Briefe von seiner Mutter erhält, erkennt er, dass er schon immer anders als andere Jungen war, denn bei den Briefen liegt ein Foto, das ihn mit einem Tutu bekleidet zeigt. Seine Eltern haben schon früh erkannt, dass Grayson lieber ein Mädchen sein wollte und nicht dagegen gesteuert, sondern ihn unterstützt, damit er sich selbst treu bleiben kann. Mit diesem Vermächtnis seiner Eltern fühlt sich Grayson gestärkt, sich seinen wahren Gefühlen auch nach Außen zu öffnen und zu zeigen.
Er muss allerdings noch einige Widerstände überstehen, denn sein Lehrer Finnegan bekommt wegen seiner Entscheidung, Grayson die Rolle der Persephone gegeben zu haben, erbitterten Gegenwind von der Schulleitung und Elternschaft. Aber Grayson gelingt es trotz aller heftigen Widrigkeiten durch Unterstützung von FreundInnen und auch deren Eltern, für sich einzustehen.
Gute Bücher für Jugendliche, die Homosexualität thematisieren, sind erstaunlicherweise heute immer noch rar, Jugendbücher die Transgender thematisieren, sind mir bisher nicht bekannt. So präsentiert Amy Polonsky nicht nur mit diesem Buch ihr Debüt als Autorin, sie hat hier auch offenbar einen völlig neuen Bereich in der Kinder- und Jugendliteratur betreten. Mit dem als „Ich“-erzählenden Grayson hat sie einen authentischen und sympathischen Jugendlichen entworfen, den man auf Anhieb mag und sich in seine zurückgezogene, zweifelnde und melancholische Gefühlswelt hineinversetzen kann. Unverkrampft und feinfühlig erzählt er in ruhiger und klarer Sprache von seinen Ängsten, Sehnsüchten und auch Hoffnungen. Bewegend erzählt Grayson von seiner Sehnsucht, sich öffentlich in wunderschönen Röcken und Kleidern zu zeigen und wie er bei der Suche nach passender „Jungs“-Kleidung darauf zu achtet, dass Shirts lang genug sind, um ein kurzes Kleid anzudeuten und möglichst knallige Farben für ein Kleidungsteil zu finden. Der Autorin gelingt es auf sensible Weise die Verzweiflung eines Jugendlichen zu beschreiben, der genau weiß, wann, wie und womit er sich „richtig“ und „bei sich angekommen“ fühlt und gleichzeitig weiß, dass er damit völlig anders ist, als das, was die Gesellschaft für „normal“ erachtet.
Ami Polonsky verzichtet mit Leichtigkeit darauf, jedes mehr oder weniger billige Klischee zu bedienen und trotzdem tiefgründig die Ambivalenz zwischen der Sehnsucht, seine wahren Gefühlen zu leben, dem Zweifel und der Irritation, ob man das so darf und man damit anerkannt wird und dem tiefen inneren Wissen, anders nicht wirklich „sein“ zu können und sich zu verleugnen. So zeigt sie bei dem Transgender-Thema mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, dass viele in ihrem schwarz-weiß-Denken mit Vorurteilen behaftet sind und andere ganz offen damit umgehen. So hat das Ensemble der Theatergruppe überhaupt kein Problem damit, dass Grayson eine Mädchenrolle spielt – und sich auch über die Rolle hinaus so fühlt.
Ein wunderbares Buch, dass mutig ein selten bis kaum beschriebenes Thema präsentiert, emotional aufwühlend von traurig, wütend, tiefgründig und mit facettenreichen Charakteren. Dieses Buch macht Hoffnung und hallt nach. Ami Polonsky ist eine Autorin, die man im Auge behalten sollte.
Das Cover-Foto passt hervorragend mit seinem geschlechtsneutralen Gesicht.
Sabine Wagner