Colson Whitehead
Aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens
Hanser, Juni 2019
224 Seiten, € 23,00
Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, wo er heute in Brooklyn lebt wurde International und besonders in Deutschland 2017 mit dem Pulitzer Preis und dem National Book Award ausgezeichneten Buch „Underground Railroad“ über die amerikanische Sklaverei bekannt.
Der neue Roman „Die Nickel Boys“ erzählt nach einer wahren Begebenheit die brutal physischen wie psychischen Misshandlungen der Besserungsanstalt in Tallahassee in Florida. 2014 wurden bei Erdarbeiten zur Errichtung eines neuen Baus, dutzende von Leichen gefunden, die zu Tode gefoltert oder erschossen wurden. Sie lagen verscharrt auf dem geheimen Friedhof der „Industrial School for Boys“, die es seit 1899 gab und 1949 nach dem damaligen Leiter Trevor Nickel benannt wurde. Heute kann man kaum noch Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen, da die meisten verstorben sind. Trotzdem wurde diese Entdeckung ein großer Skandal, indem die noch lebenden ehemaligen Insassen und Opfer ihre Leidensgeschichte in dieser Folteranstalt publik machten.
Colson Whitehead erzählt seinen Roman eng an diese veröffentlichten Berichte gelehnt, trotzdem ist es eine fiktionale Geschichte.
Der 16-jährige farbige und intelligente Elwood lebt bei seiner Großmutter in Florida, da seine Eltern sich für ein besseres Leben nach Kalifornien aufgemacht haben und ihn zurücklassen haben. Seine Großmutter Harriet putzt in einem Hotel und hat ihrem Enkel eine gute Erziehung und Bildung ermöglicht, so dass Elwood auf ein College gehen kann.
Elwood liest eifrig Zeitungen und hört sich immer wieder voller Bewunderung eine Schallplatte mit der Rede von Martin Luther King „At Zion Hill“ an. Elwood weiß, dass er als Farbiger nicht den Vergnügungspark „Fun Town“ besuchen darf und die Rassenunruhen gehen auch an ihm nicht vorbei. Doch er hofft mit den aufkeimenden Protesten im Land an eine Zukunft, die Gerechtigkeit und Gleichheit für Farbige erkämpfen wird.
Als er am Abend seines hervorragenden erreichten High-School-Abschlusses per Anhalter in einen Wagen steigt, weiß er nicht, dass dieser gestohlen ist. Der Wagen wird von der Polizei angehalten und Elwood wird vom Gericht zu einem Aufenthalt in der Besserungsanstalt verurteilt. Obwohl es ein Justizirrtum ist, bleibt Elwood zunächst relativ locker, denn er geht davon aus, recht schnell wieder draußen zu sein und aufs College gehen zu können. Doch bald merkt er, dass dies ein Irrtum ist und als der von der Großmutter angeheuerte Rechtsanwalt mit dem hart Ersparten von jetzt auf gleich verschwindet, hat auch Elwood keine Hoffnung mehr, absehbar aus dieser Foltereinrichtung herauszukommen.
Whitehead beschreibt fast dokumentarisch die grausamen und brutalen Zuständen im Nickel. Physisch wie psychisch werden die Jungen gequält, missbraucht und auch zu Tode gefoltert – während die Anstalt nach außen hin das Bild eines gepflegten, modern ausgerichteten Erziehungsheim gibt. Der nahezu nüchterne Ton der Begebenheiten lässt dem Leser eine Schauder von Grauen über den Rücken laufen. Hier setzt der Autor keine erfundene Elemente ein – die Realität, wie sehr die Jugendlichen, die Farbigen um ein vielfaches mehr als die weißen, gedemütigt und gefoltert wurden, war um ein unvorstellbares grausamer.
Nachdem Elwood mit einem anderen farbigen Jungen die Flucht aus dem Nickel ergreift, schlägt er sich nach New York durch, wo er ein neues Leben beginnt und sich als Chef einer kleinen Umzugsfirma hocharbeitet.
Colson Whiteheads siebtes Buch, hervorragend übersetzt von Henning Ahrens, erzählt spannend eine komplexe Geschichte einer wahre Begebenheit von langjährigen rassistischen Misshandlungen, mit einem zeitlichen Bogen der 60iger Jahren bis in die Gegenwart, die betroffen nachhallt. Am Ende verleiht er mit einer raffinierten und überraschenden Wendung dem Roman eine weitere Tiefe und Perspektive. Die großartige Rede von Martin Luther King ist auch heute nach wie vor aktuell. Leider.
Sabine Wagner