Charlotte von Feyerabend
Droemer Verlag, November 2021
368 Seiten, € 16,99 (Paperback)
Über Selma Lagerlöf sind schon viele Bücher und Biographien geschrieben worden, jetzt präsentiert Charlotte von Feyerabend über die weltberühmte Schriftstellerin einen kurzweiligen Roman.
Mit liebevoll, gründlich recherchierten Fakten und mit schriftstellerischer Freiheit ergänzter Fiktion, wenn z.B. aus rechtlichen Gründen Briefe zwischen Selma und ihren Zeitgenossen nicht einfach übernommen werden konnten, breitet die Autorin den Lebensweg der schwedischen Schriftstellerin von der ersten bis zur letzten Seite unterhaltsam und fesselnd aus.
In drei Teilen mit Unterkapiteln, die mit zum jeweiligen Abschnitt passenden, kurzen Überschriften einen Hinweis zu Zeit und Ort geben, beginnt der Roman im Juni 1888 in Mårbacka und endet ebendort im März 1940. Das kleine Bauerngut Mårbacka muss im Sommer 1888 verkauft werden, nachdem Selmas Vater durch seine Alkoholsucht und nach seinem Tod es hochverschuldet hinterlassen hat. Gegen alle Interventionen ihres Vaters ist Selma Lehrerin geworden und hat damit einen Beruf erlangt, der damals der einzige war, der sie als Frau von einer Ehe und finanziell unabhängig machte. Nachdem das Zuhause verloren gegangen ist, kümmert sich Selma mit ihrem Lehrerinnnengehalt um ihre Mutter und Geschwister, nebenbei schreibt sie ihr erstes Buch „Gösta Berling“. Obwohl der Roman zunächst wenig positive Kritiken erhielt, blieb Selma bei ihrer Berufung, Schreiben zu wollen und behielt den Glauben an sich selbst.
Einen wesentlichen Halt bekommt sie durch die beiden Frauen Sophie Elkan, die wie Selma Schriftstellerin war, und Valborg Olander, eine kämpferische Streiterin für die Frauenrechte, die sie in unterschiedlichen Lebensphasen trifft, aber beide einen maßgeblich prägenden Eindruck auf Selma haben. Es ist eine schwierige liebende Dreiecksbeziehung zwischen den drei Frauen, obwohl jede von der anderen weiß, dass sie Selma „mit der anderen“ teilen müssen, was ihnen erst spät mehr oder weniger gut gelingt. Vor allem mit Sophie unternimmt Selma viele Reisen, die sie dann in Bücher und Erzählungen den Leser*innen weitergibt. Sophie Elkan ist für Selma die große Liebe ihres Lebens, auch fühlt sie sich zu ihr körperlich hingezogen, doch Sophie gibt ihr eine klare „hands-off-Regelung“, die eine körperliche Liebe ausschließt. Selma akzeptiert das, leidet aber trotzdem darunter. Mit Valborg kann sie eine zweite Seelenverwandtschaft nicht nur platonisch, sondern auch körperlich ausleben.
Die Autorin Charlotte von Feyerabend widmet sich intensiv dieser beiden Partnerschaften, die als roter Faden durch die Handlung führen. Sie beschreibt fein und dennoch ohne Pathos die eher unbekannte, auch heute selten erwähnte, aber dennoch auf das Leben und die Arbeit beeinflussende Homosexualität der schwedischen Schriftstellerin und die Beziehung zwischen zwei Frauen, die ihr Leben in allen Höhen und Tiefen auf verschiedene Weise bis zu ihrem Tode mit ihr teilen. Selma lebte ihr Privatleben unter einem geblümten Deckmantel, da sie in der Öffentlichkeit stand und nicht nur für sich selbst eine finanzielle Verantwortung trug. Dennoch ist davon auszugehen, dass die sie umgebende Gesellschaft und „Insider“ durchaus die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften als solche durchschauten und sie nicht als nur Reisekameradinnen sahen.
Ein anderer wichtiger Faden ist die Entstehungsgeschichte über „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“, das eine Auftragsarbeit als Schullesebuch war, um den Kindern die Landeskunde Schwedens mit einer Geschichte näher zu bringen, da bis dahin die Bevölkerung von Nord- und Südschweden wenig voneinander wussten. Das 1906 veröffentlichte Buch sollte eines ihrer populärsten werden und ist noch heute ein wunderbarer Klassiker, nicht nur für Kinder. Dieser internationale Erfolg brachte ihr sogar eine Patenschaft für einen gleichnamigen Jungen, der aus schwierigen Verhältnissen stammte und für den sie hauptsächlich eine finanzielle Betreuung übernahm. 1909 erhielt Selma Lagerlöf als erste Frau den Literaturnobelpreis, auch wenn sie sich zu ihrer Zeit mit ihren Büchern und Erzählungen über die damals herrschende Konvention und gesellschaftlichen Normen hinweg setzte und auch die, nicht nur in der Buch- und Literaturwelt, herrschende Männerdomäne gegen sich brachte.
Mit dem Preisgeld des Nobelpreises kauft sie ihr altes Zuhause Mårbacka zurück, baute es aus und erweiterte es zu einem prächtigen Landgut, das mehr als fünfzig Menschen beschäftigte und auf dem Hafermehl produziert und bis nach Amerika verkauft wurde. Trotzdem brachte der Hof nicht so viel Gewinn ein, sodass Selma Lagerlöf aus den Einnahmen ihrer literarischen Werken immer zuzahlen musste. Aber sie war froh, ihren Lebensabend in ihrem Zuhause aus der schönen Kinderzeit gestalten zu können, auch wenn ihr die zahlreichen Besucher, die das Gut bevölkerte, nur um einen Blick auf die weltberühmte Schriftstellerin zu erhaschen, manchmal zu viel wurden.
Charlotte von Freytag erzählt mit einer der damaligen Zeit angepassten, atmosphärischen Sprache den Lebenslauf Selma Lagerlöfs und ihrer beiden Lebensparterinnen, die, jede auf ihre Weise, für die Gleichberechtigung und Rechte der Frau kämpften. Es gibt nicht viele Frauen, die in der damaligen Zeit sich im literarischen Bereich wie durch ihre Unabhängigkeit und Freiheitsliebe über so viele gesellschaftliche Verhaltensnormen entgegensetzten. Dieser leicht zu lesende Roman transportiert diese imponierende Vita lebendig in unsere Gegenwart.
Beim Lesen der Dialoge, der teils fiktiven Briefe der Frauen und den Zeitgenossen entfaltet sich eine fesselnde, anschauliche Darstellung der damaligen gesellschaftlichen, politischen Ansichten, sowie ein bezauberndes Natur- und Landschaftsbild Schwedens, das neugierig auf dieses Land macht. Die heute leider in Vergessenheit geratene, feministische Wegbereiterin Selma Lagerlöf würde sich darüber freuen. 😊
Sabine Wagner