Schulbibliotheken gehen uns alle an – Eine Podiumsdiskussion zur Frankfurter Erklärung der avj

Foto (c) Annika Nasel

Am Messe-Freitag fand auf der Leipziger Buchmesse die  Podiumsdiskussion „Schulbibliotheken gehen uns alle an“ mit Kirsten Boie, Manuela Hantschel, Kathrin Riedel, Dr. Thomas Töpfer und Markus Fritz statt. Die Moderation hat Tina Kemnitz übernommen.

Auf Grundlage der „Frankfurter Erklärung der avj“ stellte sich das Podium die Frage, wieso in einem reichen Land wie Deutschland schulische Maßnahmen der Leseförderung katastrophal unterfinanziert sind. Die Teilnehmer*innen zeigten die Schwachstellen der aktuellen Strukturen auf und formulierten Forderungen für die Leseförderungen. „Milliardensummen für eine Sondervermögen Bildung“, fordert unter anderem Kirsten Boie und wurde damit vom Publikum bejubelt.

avj-Podiumsdiskussion zur Frankfurter Erklärung

Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung der „Frankfurter Erklärung der avj“ hat die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen e.V. (avj) zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Schulbibliotheken gehen uns alle an“ eingeladen. Gemeinsam mit Kirsten Boie (Autorin), Manuela Hantschel (Vorsitzende des Bundesverbands Leseförderung), Kathrin Riedel (Direktorin der Leipziger Geschwister-Scholl-Grundschule), Markus Fritz (stellvertretender Direktor vom Amt für Bibliotheken und Lesen in Bozen) und Dr. Thomas Töpfer (Schulbibliothekarische Arbeitsstelle der Stadt Leipzig) hat Moderatorin Tina Kemnitz über die nach wie vor verheerende Situation in Schulbibliotheken gesprochen.

Ausgehend von der „Frankfurter Erklärung“, in der die Mitgliedsverlage der avj auf die sie täglich erreichenden Spendenanfragen von Bibliothekar*innen, Lehrer*innen und Lesepädagog*innen aufmerksam machen, fragte Tina Kemnitz zu Beginn: „Was ist da los in unserem reichen Land?“

Die Autorin Kirsten Boie, die als Initiatorin der Hamburger Erklärung 2018 viel Aufmerksamkeit für die Unterfinanzierung von Leseförderungsmaßnahmen wecken konnte, betonte: „Schon die IGLU-Ergebnisse 2016 haben gezeigt, dass ein Fünftel der Schüler*innen eine so geringe Lesekompetenz haben, dass die gelesenen Texte überhaupt nicht verstanden werden.“ Lehrer*innen berichten, dass Grundschüler*innen Bücher nicht vollständig lesen können, weil das zu schwierig sei. Kirsten Boie verortet die Verantwortung für die Lesekompetenzförderung für ALLE Kinder beim Staat. „Es ist banal, dass man immer wieder darauf zu sprechen kommt, aber am Ende liegt es am Geld. Rechnet man alles zusammen, was es für die Leseförderung bräuchte, käme man nicht nur auf eine Millionen-, sondern auf eine Milliardensumme.“

Aus dem Nähkästchen zur Finanzierung von Schulbibliotheken plauderte Kathrin Riedel. Der Leseraum ihrer Grundschule wurde jüngst mit dem 3. Preis des Deutschen Lesepreises ausgezeichnet – ein Ort, an dem Kinder sich zurückziehen und allein oder gemeinsam in Büchern lesen, stöbern oder sich informieren können. Dieser Ort ist ein wichtiger Teil des Leseförderungskonzepts und wird sowohl von der Schule, dem Hort als auch dem Förderverein genutzt und mit Büchern bestückt. „Von unserem Schulträger erhalten wir einmal jährlich 210,- Euro für die Beschaffung von Büchern.“ Der Leseraum wird im Rahmen einer Wiedereingliederungsmaßnahme von einer Angestellten betreut. Noch. Denn die 5 -Stunden-Stelle, die vom Bund über die Agentur für Arbeit finanziert wurde, wird gestrichen.

Wieso wird ein funktionierendes, schulisches Leseförderungskonzept nicht weiter gefördert?

Dazu musste Dr. Thomas Töpfer Rede und Antwort stehen, der in der Stadt Leipzig die Verantwortung für die Schulbibliothekarische Arbeitsstelle trägt. Er gibt zu, dass zwar 60 Prozent der Leipziger Schulen einen Leseraum oder eine Schulbibliothek haben und dass bei jeder neugebauten Schule immer eine Schulbibliothek mitgeplant wird, aber das festangestellte Personal für die Betreuung fehlte noch. „Die Lücken werden häufig durch FSJler*innen, Förderprogramme oder das Ehrenamt gefüllt. Die Personen sammeln für die Stellen auch schulbibliothekarische Qualifikationen. In Festanstellung kann nur eine neue Fachkraft pro Jahr eingestellt werden. Man kann sich denken, wie schnell man in dem Tempo bei 150 Bibliotheken vorankommt…“

Dieses Problem kennt Markus Fritz aus Bozen schon lange nicht mehr. Das Südtiroler Landesgesetz schreibt seit 1990 die Qualitätssicherung und Förderung von Schulbibliotheken vor. Dass in einer neugebauten Schule eine Bibliothek mitgeplant wird und von eine*r hauptamtlichen Bibliothekar*in betreut wird, ist in Bozen selbstverständlich. Daneben erhalten auch Lehrer*innen eine schulbibliothekarische Zusatzqualifikation, um Leseförderung in der Schulbibliothek zu betreiben.

Was machen wir in Deutschland falsch?

Markus Fritz gibt eine Einschätzung: „In Deutschland sind Maßnahmen immer zeitlich begrenzt und niemand fühlt sich für die Schulbibliotheken verantwortlich. Es ist nicht klar, wer die Kompetenzen hat und „der Schwarze Peter“ wird von Amt zu Amt weitergegeben.“

Wie erfolgreich es sein kann, wenn die Leseförderung auf allen Ebenen ernst genommen wird, lässt sich an den BiSS-Projekten (Bildung durch Sprache und Schrift) in Hamburg zeigen. Dort wurden Strukturen für die systematische Leseförderung ermöglicht, u. a. die Förderung bei geringer Sprachkompetenz von Vorschulkindern, feste Lesezeiten in der Grundschule sowie, Lehrerfortbildungen. Dadurch konnten laut IQB-Studie die Bildungskompetenzen der Schüler*innen im Vergleich zum bundesweiten Negativtrend stabil gehalten werden.

„Eine gute Lesekompetenz ist nicht nur im Deutschunterricht wichtig. Auch ein Biologielehrer profitiert davon, dass die Kinder lesen können. Daher ist es nur richtig, dass Lesekompetenzen fächerübergreifend vermittelt werden“, weiß Manuela Hantschel. Ihr Bundesverband Leseförderung e. V. bietet schon seit 2010 die Weiterbildung für Lese- und Literaturpädagogik an. Die 2-5 Jahre dauernde Weiterbildung vermittelt literarisches, pädagogisches und didaktisches Wissen, um mit Kindern der verschiedenen Altersgruppen und Lebenswelten entsprechende Sprach- und Leseförderungsmaßnahmen durchzuführen. Finanziert wird die Fortbildung meistens aus eigener Tasche oder vom Arbeitgeber.

Womit wir wieder beim Thema Geld wären. „Leseförderung bringt nichts, wenn staatliche Stellen nicht dazu bereit sind, viel, viel Geld auszugeben“, betont Kirsten Boie zum Schluss.

Manuela Hantschel wundert sich, warum beispielsweise Gelder für unbesetzte Lehrer*innen-Stellen nicht stattdessen für Festanstellungen für Lesepädagog*innen und Schulbibliothekar*innen ausgegeben werden. Es brauche eine unbürokratischere Umverteilung von ungenutzten Fördertöpfen und Haushalten – ein „Sondervermögen Bildung“.

(Textquelle: Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen e.V. (avj)

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