Isabel Allende
Aus dem Spanischen übersetzt von Svenja Becker
Suhrkamp Verlag, ET 15.04.2024
335 Seiten, € 26,00
Wien 1938. Der sechsjährige Samuel Adler wächst bis zur Pogromnacht wohlbehütet auf. Doch nach dieser Nacht ist alles anders. Samuels Vater, ein angesehener Arzt, ist wahrscheinlich von den Nazis verschleppt worden, die Wohnung und Praxis werden zerstört, die Familie verliert alles. Samuel und seine Mutter, die jüdischen Glaubens ist, werden zunächst von Oberst a.D. Theobald Volker in seiner Wohnung versteckt. Volker rät Samuels Mutter eindringlich, ihren Sohn mit einem Kindertransport nach England vor der Deportation der Nazis zu bewahren. Volker beschäftigt sich gerne mit Samuel und liebt es, seinem talentierten Geigenspiel zuzuhören. Er schenkt Samuel für seine Reise einen Tapferkeitsorden, der ihm Mut und Kraft bringen soll, wenn er dran reibt. Schweren Herzens übergibt die Mutter den kleinen, empfindsamen wie klugen Samuel mit seiner geliebten Geige am Bahnhof der Niederländerin Geertruida Wijsmuller-Meijer, die die Kindertransporte organisiert, damit er in England vor der Jugendverfolgung sicher ist. Neben ganz wenigen Habseligkeiten, die er mitnehmen darf, befindet sich in seinem Geigenkasten der Tapferkeitsorden und ein Foto seiner Eltern, die er nie mehr wiedersehen wird.
In England wird Samuel von einer Familie zur anderen gereicht, die nicht liebevoll mit ihm umgehen und er krank und unglücklich wird. Erst als er zu dem älteren Ehepaar und Quäkern Luke und Lidia Evans kommt, die sich seit Jahren um Kinder aus Kriegsgebieten kümmern, findet er ein aufmerksames und warmes Zuhause. Samuel ist 12 Jahre alt, als der Krieg endet und beginnt nach seinem Schulabschluss mit einem Stipendium das Studium an der renommierten Royal Academy of Music.
Durch die Erlebnisse in seiner Kindheit ist Samuel ein zurückgezogener, empfindsamer und etwas eigenbrötlerischer junger Mann, der auflebt, als er die lebhafte Nadine LeBlanc kennenlernt. Die beiden völlig verschiedenen jungen Menschen verlieben sich und heiraten. Samuel erlebt mit Nadine viele turbulente Ehejahre, die sie als Hippie, Künstlerin, Weberin von großen, bunten Wandteppichen und Bohemien auslebt, bis sich Nadine von ihm trennt und die kleine gemeinsame Tochter mit nach Guatemala nimmt. Samuel bleibt allein in einer großen Villa in Berkeley zurück. Trotz aller Widrigkeiten werden die beiden Jahre später noch einmal zusammenkommen.
El Salvador, El Mozote, Dezember 1981. Die kleine Letitia wird von ihrem Vater wegen starker Schmerzen ins Krankenhaus in die Hauptstadt gebracht, wo man bei ihr ein schweres Magengeschwür feststellt. Während seine Tochter im Krankenhaus behandelt wird, fährt der Vater nach Hause, wo er seine Familie wie alle anderen Dorfbewohner ermordet findet und die Häuser verbrannt sind. Traumatisiert holt er seine geheilte Letitia im Krankenhaus ab, die sich auf ihre Familie und Geschwister freut. Mit sparsamen Ausreden flüchtet der Vater mit Letitia in die USA, wo er sich und seine kleine Tochter mit Gelegenheitsjobs einigermaßen über Wasser hält. Letitia sucht Halt und Liebe und gerät immer wieder dabei an die falschen Männer. Als sie mit ihrer kleinen Tochter wieder einmal in Not ist, bekommt sie eine Stelle als Haushälterin bei einem alten, wohlhabenden und alleinlebenden Musiker.
San Francisco/Nogales 2019 Selena Durán studiert Jura und unterstützt mit Herz und Seele das „Magnolia Projekt“, das sich für Geflüchtete und Einwanderer einsetzt. Im Focus ist dabei die schwere humanitäre Krise an der Grenze zu Mexiko, wo Tausende von Kindern, Säuglinge und Kleinkinder von ihren Eltern und Familien getrennt werden. Ein Kind davon ist die siebenjährige, durch einen schweren Autounfall fast erblindete Anita Diáz, die Ende Oktober 1981 mit ihrer Mutter Marisol aus El Salvador in die USA geflüchtet sind. Marisol wird in ihrer Heimat verfolgt und sie überlebte knapp einen ein Attentat auf sie, bei dem man auf sie geschossen hat. Am Grenzübergang in Nogales haben die beiden um Asyl gebeten, was ihnen verwehrt wurde. Bei ihrer weiteren Flucht sind sie in der Wüste von Arizona festgenommen und getrennt worden.
Anita ist ein leises, intelligentes Mädchen, dass sich nach ihrer Großmutter Tita Edu sehnt. Traumatisiert und tapfer flüchtet sie sich in eine Fantasiewelt, die sie Azabahar nennt und in der sie mit ihrer Puppe Didi und ihrer dreijährigen Schwester Claudia spricht, die bei dem Autounfall ums Leben kam. In San Francisco schlägt Selena Durán in einer Anwaltskanzlei auf, um mindestens einen der Anwälte dazu zu bewegen, sich für das „Magnolia Projekt“ und Anita einzusetzen. Frank Angileri, ein junger Staranwalt der Kanzlei, ist hin- und hergerissen, mehr von der Persönlichkeit Selenas als von der erwünschten Unterstützung. Doch die Neugier, Selena näher kennenzulernen überwiegt und nachdem er auch Anita begegnet, steigt er mit mehr als nur Engagement in die Arbeit ein.
Die 1942 in Lima geborene Isabel Allende kennt durch die eigenen Erlebnisse als politischer Flüchtling und Immigrantin das Leid und Schicksal von Flucht und Migration. In diesem bewegenden, aufrüttelnden Roman verflechtet sie vortrefflich das Leben zweier Menschen, die durch höhere Gewalt als Kind alleine flüchten müssen und verbindet brillant mehrere Generationen und Familien in einem historischen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Isabel Allende lässt uns mit diesem Roman ein Thema ins Herz rücken und lebendig werden, dass wir zwar aus den Nachrichten kennen und sehen, aber nicht nachempfinden können, worüber wir nur demütig dankbar sein können. Die Figur des Obersts a.D. Theobald Volker ist ein Beispiel für einen mutigen, großzügigen Menschen, der durch seine eigenen Kriegserlebnisse für seine Überzeugung einsteht und es ihm dabei egal ist, dass er sich selbst gefährdet. Dieser Mut ist beispielhaft für menschliches Handeln.
Als politischer Flüchtling und Immigrant müssen die traumatisierten Menschen an vielen Stellen ihr Leben immer wieder neu beginnen und sortieren. Wie sehr dabei Musik und das Reich der Fantasie eine tröstende, stärkende und auch vielleicht auch heilende Kraft haben können, wird spürbar bei Samuel und Anita, die beide von Kind an auf der Suche nach Halt, Liebe, Familie und Heimat sind. Das furchtbare Fazit der Geschichte ist die Tatsache, dass sich nach über 80 Jahren immer wieder Umstände ergeben, die die traumatisierenden Erlebnisse von politischen Flüchtlingen und Immigranten wiederholen lassen und global aktuell sind. Das fast blinde Mädchen Anita in der Geschichte hat durch die kleine Juliana, die an der Grenze von ihrer Mutter acht Monate lang getrennt und zusammengeführt abgeschoben wurden, ein reales Vorbild.
Isabel Allende ist mit „Der Wind kennt meinen Namen“ (Übersetzung aus dem Spanischen von Svenja Becker) ein beeindruckender und bis zur letzten Seite fesselnder Roman gelungen, der nicht nur aufgrund seiner traurigen Aktualität nachhallt.
Ein Spruch von Antoine de Saint-Exupery hat die Autorin dem Roman vorgesetzt und steht für die beiden Hauptfiguren Samuel und Anita:
„Hier ist mein Geheimnis: Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Sabine Wagner