Victor Lodato
Aus dem Englischen übersetzt von Clauda Wenner
C.H. Beck, 19.09.2024
464 Seiten, € 26,00
Bücher über Frauen in den sogenannten „best agers“ und auch darüber hinausgibt es zahlreiche, oft in Mehrgenerationen-Frauen-Romanen verpackt und meist von nicht mehr ganz so jungen Frauen geschrieben.
Aber der Roman über eine 82-jährige Amerikanerin mit italienischen Wurzeln, der von dem 57 Jahre alten amerikanischen Autor Victor Lodato geschrieben ist, ebenfalls mit italienischem Hintergrund, hat mich neugierig gemacht.
Der in Tucson und in New York lebende Victor Lodato ist in Deutschland eher unbekannt, in den USA ein vielfach ausgezeichneter Romancier und Dramatiker. „Honey“ (aus dem Englischen übersetzt von Claudia Wenner) ist sein erstes Buch auf dem deutschen Markt.
Ilaria Fazzinga entstammt mit ihrem jüngeren und schon lange verstorbenen Bruder Enzo einer stolzen, dominanten italienischen Familie und ist in New Jersey aufgewachsen, wo bis heute die Familie lebt. Da sie von ihren Eltern bereits als Heranwachsende als schwierig und hochnäsig empfunden wurde, seilte sich Ilaria schon früh nach New York ab, wo sie offiziell ihren Nachnamen in Fasinga änderte und „Honey“ ihr Vorname wurde. Als hervorragende Kunstexpertin arbeitete sie in angesehenen Auktionshäusern, 25 Jahre lang war sie bei dem renommierten Auktionshaus Fitzroy in Los Angeles angestellt, bis sie in Rente ging. Als ihre beiden langjährigen engen Freundinnen Lara und Suzanne versterben, kehrt sie mit 82 Jahren Los Angeles den Rücken zu und wieder in ihre Heimatstadt New Jersey zurück. Sie hat das Gefühl, das unausgesprochene Dinge noch zu klären sind, auch wenn sie sich insgeheim davor sträubt. Sehr lange war sie nicht mehr in New Jersey gewesen und hatte auch keinen Kontakt zu ihrer Familie. Da ihr Abgang nach New York vor vielen Jahrzehnten mit Vorwürfen ihr Gegenüber und Unverständnis über ihr Tun behaftet war, ist ihre Familie, allen voran ihr Neffe Corrado mit Ehefrau Rina und den Söhnen Peter und Michael samt Anhang ihr misstrauisch gegenüber. Misstrauen und Skepsis fühlt auch Honey, wenn sie ihre Sippschaft erlebt.
Während Honeys ebenfalls hochbetagter Freund Dominic Sparra ihr im gemeinsamen italienischen Lieblingsrestaurant „Dante“ einen Heiratsantrag macht, verstirbt er an einem Herzinfarkt. Bei seiner Beerdigung taucht Honey in die Vergangenheit ein und trifft wieder auf ihre Familie und auf Menschen, mit denen sie sich vor vielen Jahrzehnten schon nicht gut verstanden hat, was in der Gegenwart erst einmal so bleibt, sich aber im Laufe der Geschichte behutsam in Teilen ändert.
Während sich Honey mit der Vergangenheit auseinandersetzen will, stellt sie auch die Gegenwart vor Herausforderungen. Als die junge Frau und Honeys Nachbarin Jocelyn, den blühenden Kirschbaum in Honeys Garten unter ihrem Wagen plattwalzt, ist das der Beginn einer für beiden nervenaufreibenden, aber letztlich auch zugewandten und liebevollen Freundschaft, die aber ihre Entwicklungszeit braucht.
Als Honey auf einer Streiftour mit ihrem Wagen überfallen und sie brutal aus dem Auto gezerrt wird, lernt sie den jungen Künstlermaler Nathan Flores kennen, der auf Anhieb von Honey fasziniert ist. Nicht nur, weil Honey Wissen und Ahnung von Kunst hat fühlt sich Nathan von ihr angezogen, sondern Honeys gesamte Persönlichkeit und Ausstrahlung beeindruckt ihn. Honey ist zwiegespalten zwischen der Annahme von Nathans Avancen und dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass sie viel zu alt für ihn ist, um an eine Liebesgeschichte zu denken.
Eines Tages steht Honeys Großneffe Michael unangemeldet, verwirrt und in einem seltsamen Aufzug vor ihrer Tür und bittet sie nachdrücklich um ein paar Hundert Dollar, die er nicht von Honey bekommt, er dafür aber, weniger aus Rache als aus Unachtsamkeit, eine sehr wertvolle Vase zerstört. Michael ist die Person, die Honey nicht mehr aus dem Kopf gehen wird, weil sie ihn ohne Geld zu geben (was ihr nicht wehgetan hätte) wegjagt und im Laufe der Annäherung mit ihrem Neffen Corrado und seiner Familie etwas über Michael erfährt, dass sie ab diesem Moment bis zum Ende des Buches beschäftigt. Honey macht sich Vorwürfe, dass sie sich so verhalten hat und es lässt sie nicht mehr los, so dass sie dafür sogar über ihren eigenen Schatten springt, was die Familienzwistigkeiten angeht.
Das ist ganz grob umrissen der Rahmen der komplexen Familiengeschichte von Honey, die Victor Lodato mit einem dynamischen Tempo in einem wunderbaren lakonisch-witzigen, mitunter auch bissig-ironischen Ton erzählt. Es gelingt dem Autor meisterhaft, zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herzuspringen, ohne den roten Faden der Geschichte zu verlieren und am Ende die verschiedenen Erzählstränge ohne Sentimentalität miteinander zu verbinden. Wie in einem Mosaik fügen sich die unterschiedlichen Zeitperspektiven zusammen und ergeben ein fulminantes, lebendiges und beeindruckendes Bild einer italienischen Familie, in der der Zusammenhalt oberstes Gebot ist, egal, mit welchen Mitteln man Geschäfte macht oder Rache übt, um „Gerechtigkeit“ herzustellen.
Honey ist zu Beginn der Geschichte eine nach außen wirkende selbstgerechte alte Dame, die aber insgeheim weiß, dass auch sie viele Fehler gemacht hat, denen sie nachspüren will, gleichzeitig sich aber auch davor zaudert. Die Taten ihrer italienischen Familie, insbesondere die ihres Vaters und Onkels, erscheinen ihr, wie dem Leser/der Leserin zunächst nebulös, doch nach und nach erfährt man, was Honey als Teenager widerfahren ist und wie die Familie darauf reagiert hat. Eine Vergeltung, die Honey bis heute beschäftigt und sich jetzt damit auseinander setzen will. „Sempre la famiglia“, das für ihre Familie noch immer eisern gilt, ist für Honey mit widersprüchlichen Gefühlen verbunden, denen sie auf den Grund geht. Sie ringt mit sich und ihrem Alter, denkt an Suizid, hat auf der anderen Seite aber noch durchaus Lust und (Lebens-)Freude an Sex, den sie sich aufgrund ihres Alters jedoch nicht zugestehen will.
Die umfängliche beeindruckende Persönlichkeit Honeys kurz zusammenzufassen ist schwierig. Man wird ihr mit ihrem eigenem Humor, der sich auf feine Weise klug und lebensweise verbindet, sehr nahe und schließt sie ins Herz. Wunderbar ihre Eigenart, sich zum Nachdenken und vor dem Leben draußen in ihren begehbaren Schlafzimmerschrank zu verkriechen, den sie mit Polstersessel, Tischchen, Fußschemel, Leselampe und einem Potpourri beruhigender Gerüche ausgestattet hat.
Doch nicht nur Honey hat Victor Lodato mit Tiefe ausgearbeitet, auch alle anderen Figuren besitzen einen feinen, klaren Schliff.
„Honey“ ist ein vielschichtiger, komplexer Roman in einer wunderbar leichten, dennoch klug-witzigen Sprache (an dieser Stelle noch einmal die Erwähnung der Übersetzerin Claudia Wenner) über das italo-amerikanische Leben einer feinen, fast 83 Jahre alten Damen mit deutlichen Ecken und Kanten, die über ihre selbstgerechte Einstellung aus Lebenserfahrungen der Vergangenheit die Offenheit für Neues und Perspektivwechsel nicht verloren hat.
Victor Lodato stammt selbst aus einer italo-amerikanischen Familie und dankt im Nachwort insbesondere den Frauen seiner Familie, „ohne die er nicht überlebt hätte“.
Man mag ihm gerne glauben, „dass er die Geschichte lange in seinem Herzen getragen hat und sie von dort aufs Papier zu bringen schwierig war.“
Ein intensives, sprachlich besonderes Buch mit einer beeindruckenden Frau, das ich von der ersten bis zur letzten Seite genossen habe und nachhallt. Großartig!
Ein Hingucker ist das feine, stilvolle Cover, das das wunderbare Buch perfekt abrundet.
Sabine Wagner