Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben

Anita Decker

dtv, 01. Januar 2025

480 Seiten, € 16,99

 

 

 

 

Anika Decker, Jahrgang 1975 ist bekannt als hervorragende Drehbuchautorin und Regisseurin. Sie hat das Drehbuch für „Keinohrhasen“ (2007) geschrieben und mit diesem Debüt sofort einen durchschlagenden Erfolg gehabt. Als Regisseurin hatte sie großen Erfolg mit den Filmen „Traumfrauen“ und „High Society“. Auch mit ihrem gefeierten ersten Roman „Wir von der anderen Seite“ zeigte Anika Decker ihr schriftstellerisches Talent.

In Ihrem neuen Roman geht es um Nina, 50 Jahre, geschieden, zwei erwachsene Kinder, die mit den Wechseljahren und Hormonen kämpft und sich sich in den zwanzig Jahren jüngeren David verliebt. Nach ihrer Scheidung von Phil musste Nina von einer schönen Villa in eine Einzimmerwohnung in Kreuzberg ziehen und auch darüber hinaus hat sich ihr Leben mit dem Verlust vieler ehemaligen Annehmlichkeiten drastisch verändert. Nina und David verbringen ein paar wunderschöne Nächte miteinander, doch am Tage wird ihnen klar, dass sie altersmäßig auf keine dauerhafte Beziehung hoffen können und gehen auf Abstand, was allerdings von beiden Seiten aus nicht so ganz funktioniert wie gedacht. David hat eine schwere, dunkle Zeit hinter sich, über die Gründe und Auslöser schweigt er. Nina arbeitet als Assistentin in einer Filmproduktionsfirma, wo Zeynep nicht nur ihre Lieblingskollegin, sondern auch ihre beste Freundin ist. In der Film-Produktionsfirma kommt heraus, dass der gefeierte Schauspieler-Kommissar Hotte Günther mehrfach sexuelle Übergriffe an jungen Schauspielerinnen begangen hat. Eine Compliance-Firma soll für Aufklärung sorgen, wobei der Produktionsfirma mehr daran gelegen ist, dass alles vertuscht wird. Nina und Zeynep geraten dabei mehr oder weniger ungewollt in den Mittelpunkt, aber auch Ninas Ex-Mann Phil, der Rechtsanwalt ist und Flori, der Mann von Ninas Schwester Lena sind in diesem Komplott verwickelt.

Ninas Ex-Mann Phil ist Vater von dreijährigen Zwillingen und mit der deutlich jüngeren Lulu verheiratet. Ninas vier Jahre jüngere Schwester Lena ist mit Flori verheiratet, der auch in Ninas Produktionsfirma arbeitet, allerdings einige Liga höher. Für Lena haben sich alle Wunschträume mit beruflich erfolgreichen Mann, zwei hübschen, gesunden Kindern, einem Haus mit Garten im noblen Berliner Grunewald erfüllt und eigentlich müsste sie rundum glücklich sein. Ist sie aber nicht, denn sie fühlt sich als Außenseiterin im erlauchten Kreis um die Influencerin Lulu, deren Zwillinge im ähnlichen Alter sind wie Ninas Mädchen. Lena bemüht sich redlich, mit Klamotten und Gehabe vom Kreis der Grunewald-Frauen aufgenommen zu werden, auch wenn sie insgeheim weiß, dass sie von ihrer Persönlichkeit her nicht wirklich da rein passt.

Das Verhältnis der beiden Schwestern Nina und Lena ist nicht das innigste. Lena kann nicht verstehen, dass Nina durch ihre Scheidung so viel aufgegeben hat und sieht herablassend auf ihre Schwester. Nina dagegen ist neidisch auf das gut situierte Leben Lenas, kann aber auch deren Nörgeleien und Zurechtweisungen nur schwer ertragen. Nicht ganz unschuldig an dieser Situation ist auch Karin, die Mutter der beiden. Sie fordert nicht nur aktuell mit ihren altersgerechten Eigenarten und Besonderheiten das Leben ihrer Kinder heraus. Nach dem frühen Tod des Vaters von Nina und Lena, als Nina vierzehn Jahre alt war und Lena zehn, verlor Karin ihren Lebenshalt. Es gab einen ganz besonderen Sommer, der durch eine krasse Handlung von Karin die Beziehung zu ihren Töchtern tragisch verändern und bis heute belasten sollte, da von keiner Seite aus etwas an- oder ausgesprochen wurde.

Auch wenn das Buch zunächst durch seinen witzigen Titel auffällt (was auch nach hinten gehen kann), erschließt sich am Ende des Buches diese Wahl als absolut passend und humorvoll. Aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt Anika Decker eine pralle Geschichte mit vielen Lebensthemen. Die Figuren reflektieren mit ironisch-bissigen Pointen ihr Verhalten und man erlebt im Laufe der Handlung eine Entwicklung ihrer Persönlichkeiten. Mit Nina ist es eine Geschichte über eine Frau um die Fünfzig, die nicht nur mit Hormonen und Wechseljahren kämpft, sondern auch darum, dass auch sie sich mit einer Selbstverständlichkeit in einen deutlich jüngeren Mann verlieben darf, ohne blöde Kommentare zu bekommen, wie Männer es in junge Frauen dürfen. Die zwei vernünftigen Erwachsenen Nina und David, die sich mal nackt gesehen aber Angst haben, sich ihre gegenseitige Liebe einzugestehen, ist eine wunderbare, zarte Liebesgeschichte ohne jeden Kitsch. Mit Lena und Nina ist es eine Schwestern-Geschichte, plus Karin eine Mutter-Tochter-Geschichte, sowie bei Nina eine Mutter-Tochter-Sohn-Geschichte. Zusammengefasst also eine Mehrgenerationen-Familiengeschichte, in der es wie so oft um unausgesprochenes, ewig unter den Tisch gekehrtes geht, das sich irgendwann wie eine Explosion entlädt. On Top ist es auch eine MeToo-Geschichte. Nun könnte man meinen, dass bei so vielen Themen alles nur an der Oberfläche angekratzt wird. Doch Anika Decker erzählt die verschiedenen Stränge mit einer beeindruckenden Intensität und lässt sie geschickt zusammenfließen.

Das Einzige, was mich an diesem Buch wirklich gestört hat und die Geschichte nicht braucht, sind die überfrachteten Benennungen von Luxus-Markenartikel/Product placement. Ich bin fest davon überzeugt, dass jede Leserin/jeder Leser zwischen Bayern und Ostfriesland auch ohne diese zahlreichen Benennungen von Marken-Kleidung, Uhren, ganzen Mode-Kollektionen, den Hintergrund und das Imponiergehabe der Grunewalder Society verstanden hätte. Ob die Autorin mit der mehrmaligen Hervorhebung eines seit 170 Jahren tatsächlich existierenden Berliner In-Restaurants nun bei der erbetenen Tischreservierung einen Vorzug bekommt, bleibt offen.

Anika Decker ist ein großartiger Familien- und zarter Liebesroman gelungen, der mit unzähligen herrlichen Pointen und klugen, reflektierten Gedanken der Figuren gespickt ist. Man merkt bei dieser Geschichte, dass die Verfasserin auch Drehbuchautorin ist, denn während ich das Buch las, lief die Handlung wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. Ich bin gespannt, ob Anika Decker einmal ihren Roman in ein Drehbuch verwandelt und als Regisseurin den Film umsetzt. Ich wünschte, das würde wie das vorliegende Buch hervorragend.

Das Cover mit dem in bunten Farben gesetzten Titel passt prima.

Sabine Wagner

 

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