Jenny Valentine
Aus dem Englischen von Klaus Fritz
dtv premium, September 2011
240 Seiten, € 12,90
ab 12 Jahre
Inhalt:
Chap landet halb verhungert in einer Notunterkunft für schwierige Kinder im Osten Londons. Eigentlich will er nur etwas essen und ein Bett zum ausschlafen, doch die Verantwortlichen der Sozialstation machen sich mit großer Energie auf die Suche nach seiner Herkunft. Doch Chap hat keine Eltern, Verwandten und lebt meist auf der Straße,
wenn er wieder mal aus einem Heim ausgerissen ist. Als die Sozialarbeiter ihm aber ein Foto zeigen, dass ihn in einem wesentlich gepflegteren Zustand und einige Jahre jünger zeigt und ihm erklären, dass seine Familie ihn seit zwei Jahren verzweifelt sucht, fasst er spontan den Entschluss, sich für diesen Jungen Cassiel Roadnight auszugeben. Er wollte schon immer einmal eine richtige Familie haben, die sich um ihn sorgt und was hat er schon zu verlieren? Was Chap allerdings zunächst nicht bedenkt, ist die Tatsache, dass man nicht unbemerkt das Leben eines anderen stehlen kann. Er weiß nichts über das Leben dieses Jungen, seine Familie, nichts über die Freunde und Feinde, was für ihn zu einem sehr gefährlichen Drahtseilakt wird. Das so erträumte wohlige Familienleben präsentiert sich nämlich ganz anders wie vorgestellt und irgend etwas Schlimmes scheint in dieser Familie vorgefallen zu sein, was mit ihm im Zusammenhang steht. Das kompakte Nichtwissen über das Leben von Cassiel, in das Chap hineingeschlüpft ist, wird zu einer ständigen Gefahr für ihn.
Rezension:
Jenny Valentines Protagonisten sind oft Außenseiter, die in bizarren Beziehungen und
ungewöhnlichen Situationen leben. So auch die Hauptfigur ihres neuen Romans, der 16Jahre alte Chap. Er wächst die ersten Jahre bei seinem Großvater auf, bis dieser von einem Tag auf den anderen nicht mehr nach Hause zurückkehrt und den damals 10-jährigen Jungen mehrere Wochen alleine lässt. Nach vielen Jahren mit Aufenthalten in verschiedenen Heimen und genauso zahlreichen Ausrissen ist es nachvollziehbar, dass Chap rotzfrech die Gunst der Stunde nutzt, als man ihm eine Familie auf dem Tablett serviert. Diese Familie sucht seit zwei Jahren ihren Sohn und Bruder Cassiel, dem Chap zum verwechseln ähnelt. Dieser messerscharfe Balanceakt, eine unbekannte Kopie zu leben und sich für einen anderen auszugeben, dabei nichts über sein Duplikat weiss, lässt Chap und den Leser in viele Situationen geraten, bei denen beide vor Spannung den Atem anhalten. Jedes Mal, wenn er so gerade eben wieder eine zwiespältige Situation gemeistert hat, möchte man mit ihm ausatmen, doch man weiß, dass diese Pause nicht von langer Dauer ist. Man begleitet Chap auf der Suche nach der Person, dessen Leben er übernommen hat, der Suche nach Geborgenheit und der gleichzeitigen Angst und Verzweiflung, jeden Moment mit seiner Rolle aufzufliegen. In Rückblenden erzählt Chap von seiner Vergangenheit, warum er ohne Freunde, Schulbesuch und in einer ungewöhnlichen „Normalität“ bei seinem Großvater gelebt hat. Der war ein abgeschotteter Sonderling, sich aber um seinen Zögling liebevoll gekümmert hat, ihm viele Freiheiten ließ, vielleicht zu viele. Dass die Familie nicht unbedingt der erhoffte Ort wohligen Umsorgt seins ist und über dieses vorgetäuschte harmonische Familienleben ein dunkles Geheimnis liegt, merkt Chap schnell „zwischen den Zeilen“. Sein Zimmer ist steril aufgeräumt und er findet nichts, was ihm etwas über den wahren Cassiel sagen und helfen könnte. Seine Schwester Edie macht zwar Andeutungen über Spannungen zwischen ihm, seinem Bruder Frank und dem Jungen Floyd, doch sie bleiben zu diffus, als dass sie für Chap/Cassiel hilfreich sind. Als er Floyd kennenlernt und ihn für einen früheren guten Freund hält, tritt er in ein weiteres Minenfeld. Floyd merkt schnell, dass nicht der wahre Cassiel vor ihm steht und so bringt sich die Kopie mit jeder weiteren Geste, jedem weiteren Wort immer mehr in Gefahr. Es ist eine Gefahr, die für ihn tödlich enden kann. Jenny Valentine ist es wieder einmal hervorragend gelungen, ausgefallene Charaktere zu schaffen, die sie mit einer klug durchdachten Lebendigkeit füllt. Obwohl es im Laufe der Geschichte schon Andeutungen gibt, wer für Cassiel gefährlich werden könnte, bleibt bis zum Schluss ein dramatischer Nervenkitzel über einer magischen und düsteren Atmosphäre. Die Geschichte kombiniert brisant einen atemlosen Thriller mit einer subtilen, psychologischen Hintergründigkeit und einer ausgefallenen Identitätssuche. Das Buch zeigt, dass es nicht nur gefährlich sondern auch unmöglich ist, die Identität eines anderen anzunehmen und zu glauben, damit durchzukommen. Es ist aber auch alles andere als einfach, plötzlich eine reale Vergangenheit zu erhalten und zum ersten Mal mit einem echten eigenen Ich-Bewusstsein zu leben.
Mit ihren ersten beiden Büchern („Wer ist Violet Park“, „Kaputte Suppe“) hat Jenny Valentine bereits große Erfolge gefeiert, ihr letztes Buch, „Die Ameisenkolonie“ hat mich nicht so überzeugt. Mit „Cassiel Roadnight“ hat die junge Autorin aber einen überzeugenden, neuen Höhepunkt in ihrem Schaffen gesetzt.
Der Übersetzer Klaus Fritz hat auch diesen Roman wieder in treffend übersetzt. Das Cover ist mit dem fragenden und gleichzeitig etwas süffisant blickenden Jungengesicht absolut stimmig ausgewählt.
Sabine Hoß
Bewertung: