Neal Shusterman
Aus dem Englischen von Anne Emmert und Ute Mihr
Sauerländer, August 2012
432 Seiten, € 16,99
ab 14 Jahre
Auf der Suche nach einem Hefttacker entdeckt der 16-jährige Connor drei Flugtickets für einen Familienurlaub auf den Bahamas. Sein Ticket fehlt. Verwirrt sucht Connor nach dem Grund und findet ihn in seiner Umwandlungsverfügung. Seine Eltern haben die Möglichkeit genutzt, ihren unbequemen, revoltierenden Sohn dem Staat zur Weiterverwendung zurückzugeben. Diese Möglichkeit bietet ihnen die „Charta des Lebens“, der den letzten langen Bürgerkrieg zwischen Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürworter beendet hat. Mit dieser Charta können die Eltern „ihre Kinder zwischen dem dreizehnten und achtzehnten Lebensjahr rückwirkend abtreiben, unter der Bedingung, dass das Leben des Kindes „streng genommen“ nicht endet“. Es wird garantiert, dass die Umwandlung völlig schmerzfrei ist und die Kinder mit jedem Körperteil weiterleben. Diese Möglichkeit nutzen Connor`s Eltern, denn er eckt mit seiner aufbrausenden, unbeherrschten Art sehr oft an und ist nicht selten in Schlägereien verwickelt. Connor hat natürlich große Angst und haut von zu Hause ab. Auf seiner Flucht trifft er auf das Mädchen Riesa, die in einem Waisenhaus lebt und mangels musikalischen Talents für den Staat zu teuer geworden ist und ebenfalls umgewandelt werden soll, sowie Lev, der als Zehntopfer eigentlich stolz darauf ist, sich für eine Umwandlung „bewusst“ zu opfern. Zunächst misstrauen sie sich gegenseitig, doch schnell wir den Dreien klar, dass sie nur gemeinsam entkommen und Schutz finden können. Es beginnt eine dramatische Jagd, bis sie mit anderen Flüchtigen mitten in der Wüste auf einer Art Flugzeugfriedhof landen. Connor und die anderen hoffen, der Umwandlung entkommen zu sein, doch bald stellen sie fest, dass hier eine undurchsichtige und gefährliche Diktatur herrscht, angeführt von einem ehemaligen Admiral der USS-Marine. Werden Connor und die anderen Flüchtigen der grausamen Umwandlung entgehen können?
Rezension:
Der amerikanische Autor Neal Shusterman, Jahrgang 1962, präsentiert mit „Vollendet“ nicht nur sein erstes Werk in Deutschland, das in den USA bereits vielfach ausgezeichnet wurde, sondern auch gleichzeitig eine sehr provokante schaurige Dystopie, ganz im Trend des aktuellen Buchmarkts.
Es ist ein abgrundtief schauriger Gedanke, dass man ein Kind ab dem dreizehnten Lebensjahr „rückwirkend“ abtreiben kann, indem man es dem Staat zur kompletten Ausschlachtung seines Körpers abgibt. Die Frage einer Abtreibung im ungeborenen Zustand ist alleine schon schwer und folgenreich, wie empathielos ist dann eine Gesellschaft, die das Leben ihrer Kinder nach 13 gemeinsamen Jahren (zugegeben, in einer Phase, in der das Miteinander sehr anstrengend sein kann) in umgewandelter Form beendet? Shusterman hat brisante Themen wie Abtreibung und die aktuelle Diskussion zur Organspende mit all ihren Pro & Contras und begleitenden Fragen als roten Faden für sein Buch genommen. Die verzweifelte Tat überforderter und hoffnungsloser Mütter, ihre gerade entbundenen Babys abzulegen wird ebenfalls aufgegriffen. Hier hat es sich allerding zu einem „normalen“ und gesellschaftlich respektierten, wenn auch furchtbar lästigem, Akt entwickelt, der sogar eine eigene Bezeichnung bekommen hat. Das Ablegen eines Babys vor der Haustür eines anderen nennt man „storchen“ und eigentlich ist der neue „Besitzer“ verantwortlich für das weitere Wohlergehen des Kindes. Eigentlich…
Shermans flüssig zu lesender Sprachstil ist sachlich, fast möchte man sagen nüchtern. Mit dem Verzicht von gefühlbetonten Beschreibungen trifft der Autor zwar den richtigen Ton für die provokante Thematik, trotzdem dauert es, bis man einen Zugang zu den Charakteren bekommt, bei denen bis zum Schluss eine gewisse Distanz bleibt. Raffiniert wir die Geschichte mit der Präsentation der drei Protagonisten in parallel laufenden Erzählsträngen aufgebaut, die auf dem Höhepunkt ihrer Flucht zusammenfließen. Obwohl herausfordernde Themen als Grundlage genommen werden und eine bedrückende, dunkle Atmosphäre über diese Dystopie liegt, fällt die Spannung in der Mitte der Geschichte ab. Erst zum Schluss gibt es mit der Beschreibung einer Umwandlung eine der wenigen emotional beeindruckenden Stellen in diesem Buch.
Während die Jugendlichen über verschiedene philosophische Sinn-Fragen des Lebens diskutieren, fehlt in diesem Buch die generelle Aufarbeitung, wieso die Eltern so emotionslos und ohne Zweifel die Möglichkeit der Umwandlung ihrer Kinder zulassen. Warum eine Rückgabe erst ab dem 13. Geburtstag und nicht schon früher möglich ist, bleibt ebenfalls unbeantwortet. Der Autor setzt zwar die „Charta des Lebens“ als Universallösung der Kriegsgegner von Abtreibungsbefürworter- und Gegner dem Buch voraus, doch das alleine ist zu einfach und ohne nachvollziehbare Hintergründe. Immer dann, wenn man sich mehr Tiefe und Hintergrund gewünscht hätte, weicht die Story in Nebensächlichkeiten aus. Außerdem gibt der Autor eine eindeutige Vorgabe, die im Grunde keine Diskussion zur Frage der Organspende zulässt. Das wiederum steht im Kontext zur eigentlichen Aussage des Buches, nämlich, dass jeder Mensch selber über sich und seinen Körper bestimmen sollte.
Im Trend dunkler Endzeitgeschichten hat Neal Shusterman brisante Themen provokant gemixt und in einem distanzierten, sachlichen Stil weitergedacht. Leider bleiben viele Grundfragen, Hintergründe oberflächlich, ungeklärt und auch widersprüchlich. Eine grausige Zukunftsvision mit Ecken und Kanten, die sicher kontrovers diskutiert wird.
Unlängst habe ich den Spruch gehört: „Wenn die Kinder klein sind, hat man sie zum fressen gern und wenn sie in der Pubertät sind, bereut man es manchmal, nicht getan zu haben.“ Ein Satz, der nach diesem Buch eine besondere Bedeutung bekommt.
Sabine Hoß
Bewertung: