Die Autorin Güner Yasemin Balci ist 1975 in Berlin-Neukölln als Kind türkischer Gastarbeiter geboren und aufgewachsen.
Sie hat Erziehungs- und Literaturwissenschaft studiert und im Modellprojekt „Kiezorientierte Gewalt- und Kriminalitätspräventation“ im sozialen Brennpunkt Neuköllns und in einem Mädchentreff mit Jugendlichen aus türkischen und arabischen Familien gearbeitet. Sie war ZDF-Redakteurin und arbeitet heute als freie Autorin und Fernsehjournalistin.
„Arab Queen oder Der Geschmack der Freiheit“ ist nach „Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A.“ ihr zweites Buch.
Zu ihrem aktuellen Buch „Arab Queen oder der Geschmack der Freiheit“ hat sich Frau Balci für ein Mail-Interview freundlicherweise Zeit genommen:
S.H.: Im Vorwort Ihres ersten Buchs „Arabboy“ berichten Sie, dass Sie nach 4 Jahren Ihre Arbeit in einer Jugendeinrichtung im sozialen Brennpunkt Berlin-Neuköllns hingeschmissen haben, weil die Gewalt und Aggressionen immer mehr zunahmen und die eigenen Ansprüche an diese Arbeit weit dahinter zurückblieben. Was hat sie nach diesen Erfahrungen bewogen, diese beiden Bücher zu schreiben?
Balci: Ich habe die laufende Berichterstattung zum Thema verfolgt und festgestellt, dass es da viele Wissenslücken gibt in Bezug auf das Leben von jungen Migranten in unfreien Familiensituationen. Ich dachte, das es an der Zeit ist, dass auch diese Welten sich in deutscher Literatur wiederfinden, deshalb habe ich die Bücher geschrieben.
S.H.: „Arab Queen“ gibt dem Leser einen sehr schockierenden, sprachlos machenden Einblick in türkische Familientraditionen und die patriarchalische Führung.
Ist die Geschichte ein extremes Beispiel der unteren sozialen Schicht oder muss man davon ausgehen, dass diese Kontrollen, Fremdbestimmungen auch in gebildeteren Schichten vorhanden sind?
Balci: Der Großteil der arabisch- und türkischstämmigen Menschen in Deutschland gehört nicht zum Bildungsbürgertum, also muss man davon ausgehen, dass in zu vielen Familien Patriarchalische Strukturen herrschen, zu viele um ständig darauf aufmerksam zu machen, dass es auch andere gibt.
S.H.: Gibt es die sogenannten „angepassten“ Türken in Deutschland gar nicht oder sind sie nur eine verschwindende Minderheit?
Balci: Natürlich gibt es Menschen aus anderen Kulturen, die sich an die Grundwerte dieses Landes halten, zum Glück. Um die geht es mir auch nicht. Es gibt aber leider viel zu viele, die es nicht tun, mir ist egal ob die aus der Türkei kommen, aus Albanien oder Palästina, Tatsache ist, dass unter vielen Muslimen eine Geschlechtertrennung praktiziert wird, die gegen Menschenrechte verstößt.
S.H.: Die jungen Mädchen und Frauen sind hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Sie erleben alle Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben in einem demokratischen Land und können sich Hilfe und Unterstützung sicher sein.
Warum stellen Sie eine familiäre, ständig kontrollierte familiäre Knechtschaft, persönliche Unfreiheit über ein freies, eigenes Leben?
Balci: Weil die Mädchen nichts anderes kennen. Uns fällt es leicht zu sagen: dann sollen die doch gehen! Aber so einfach ist das eben nicht, versuchen Sie doch einmal sich in so ein Leben, wie Mariam es führt hineinzudenken, sie werden merken, dass dieses Mädchen gar nicht den Blick haben kann für das, was nach dem Schritt in die Freiheit kommen könnte.Sie haben Angst allein und verlassen zu sein und ehrlich gesagt sind sie dass auch erst einmal ohne ihre Familie.
S.H.: Warum ist die Angst, eine solche Familie zu verlieren größer als der Wunsch nach Freiheit, dem Wunsch und Stolz, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln?
Balci: Freiheit ist ein zu Abstrakter Begriff für diese Frauen, sie haben sie nie selber erfahren. Ein Kinobesuch ist Freiheit. Ein Handy zu besitzen ist Freiheit, Shoppen zu gehen ohne Kontrolle ist Freiheit, sie sehen, dass was für Sie und mich alltäglich ist, kann für diese Mädchen schon Freiheit bedeuten. Wenn ein Mensch nie zur Freiheit und Selbstbestimmung erzogen wurde, wie soll er plötzlich damit umgehen? Freiheit bedeutet auch Entscheidungen zu treffen, ganz allein und davor haben viele Angst.
S.H.: Sie schreiben in dem Buch, dass der Vater zunächst seine in der Türkei lebenden Familie finanziell unterstützt. Durch den Abstand im Laufe der Jahre wird diese aber immer geringer. Als er sich seines Erwachsenseins bewusst wird, lässt er sich nichts mehr von seinem Onkel und Bruder sagen. (S. 74)
Hier zeigt sich eine Entwicklung zur selbstbewussten Unabhängigkeit. Warum gibt es diese Entwicklung im Laufe von über 40 Jahren Leben und Arbeiten in Deutschland noch nicht einmal im Ansatz in den beschriebenen Familientraditionen?
Balci: Solange diese Menschen unter sich bleiben und keinen Kontakt zu anderem Leben haben, gibt es keinen natürlichen Grund sich zu verändern, genau hier liegt das Problem. Überlegen Sie mal, wieviele muslimische Freunde oder Bekannte haben Sie selbst? Man lebt aneinander vorbei und die Kinder und Jugendlichen, besonders die Frauen sind die Leidtragenden, denn sie wachsen mitten in Deutschland in einer Gesellschaft auf in der das Individuum nicht zählt sondern nur das Kollektiv.
S.H.: Man kann davon ausgehen, dass die nun heranwachsende, junge türkische Generation von Eltern stammt, die ebenfalls hier geboren und aufgewachsen sind.
Darf man hoffen, dass diese Töchter freier und selbstbestimmter leben können oder wiederholen sich auch hier diese Strukturen?
Balci: Es gibt eine Heiratsmigration, die uns in der Entwicklung Jahre zurück geschmissen hat. Man holt sich einen Ehepartner aus der alten Heimat und das ganze beginnt von vorne, es ist ein ewiger Kreislauf, der nur durchbrochen werden kann, wenn wir fordern, dass die Menschen, die hier einwandern eine gewisse Leistung erbringen, zum Beispiel deutsch lernen, das würde allen beteiligten gut tun. Aber ich sehe auch, dass es junge Generationen gibt, die es bei ihren Kindern besser machen und das beruhigt mich dann auch.
S.H.: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum gerade die türkischen Mitbewohner in Deutschland seit Generationen in ghettoartigen Stadtvierteln wohnen und leben und so gut wie kein wirkliches Miteinander mit Deutschen und anderen ausländischen Mitbewohnern gewollt ist?
Balci: Früher hat man es gut gefunden, wenn die alle schön unter sich bleiben, oft in der stillen Hoffnung die würden schon irgendwann wieder in die Heimat gehen, heute haben sich diese Lebensverhältnisse verfestigt, man bleibt unter sich, alle anderen (die nicht im Ghetto leben wollen) ziehen weg. Es ist bequem, wenn man unter sich ist, man braucht kein Deutsch, man kann sich zurechtfinden, es herrschen Bedingungen, wie in der alten Heimat – ganz ehrlich, warum sollte das jemanden stören, der nichts anderes kennt?
S.H.: Haben Sie eine realistische Hoffnung, dass Ihr Buch die Zielgruppe erreicht und zum Kampf und zur Durchsetzung für ein selbstbestimmten Lebens führen könnte?
Balci: Ich mache mir da keine Illusionen, mein Buch ist nur eine Geschichte, es gibt davon tausende. Ich denke es ist wichtig sie aufzuschreiben, denn sie sind ein Teil dieser Gesellschaft und sie haben ein recht darauf Beachtung zu finden. Wenn junge Menschen es gerne Lesen und sich darin wiederfinden, habe ich schon viel erreicht.
S.H.: Ihre Familie hat Sie liberal und offen erzogen.
Eine seltene Ausnahme in dieser Kultur?
Balci: Nein, keine Ausnahme. Meine Eltern sind Aleviten und waren immer bildungsorientiert, ich kenne eine Menge alevitischer junger Frauen und Männer, die selbstbestimmt leben. Je weniger Traditionen und Religion das Leben der Menschen bestimmen und damit meine ich jede Religion, desto mehr Individualität und Freiheit des Einzelnen tritt in den Vordergrund.
S.H.: Ich bedanke mich sehr herzlich, dass Sie sich Zeit für das Interview genommen haben und wünsche Ihnen noch viel Erfolg für Ihre Arbeit und Projekte!
Sabine Hoß
Juli 2010
(Fotos: privat Güner Yasemin Balci)