Tanya Lieske ist Autorin, Journalistin und Moderatorin. Als Literaturkritikerin und Autorin arbeitet sie seit 1997 für das Radio, den WDR und den Deutschlandfunk, seit 2006 moderiert sie u.a. die Sendung „Büchermarkt“ aber auch Veranstaltungen in Literaturhäusern und literarische Festivals. Darüber hinaus bietet sie Workshops zum Thema „Biographisches Schreiben“ an. Tanya Lieske hat zwei Kinder und wohnt in Düsseldorf, wie auch in Galway, Westirland. Weitere Infos sind nachzulesen auf Ihrer Homepage http://www.tanyalieske.de/
Zu Ihrem erstem Kinderbuch bei Beltz & Gelberg „Oma, die Miethaie und ich“ habe ich mit der Autorin ein Interview geführt.
Frau Lieske, Sie haben in Ihrem Kinderbuch unter anderem zwei ungewöhnliche und in der Kinder- und Jugendliteratur selten beschriebene Themen aufgegriffen: Analphabetismus und die gnadenlose, ausbeutende Umstrukturierung städtischer Wohnhäuser (Gentrifizierung). Die Geschichte spielt in Düsseldorf-Bilk. Sie selber wohnen, teilweise zumindest, ebenfalls in Düsseldorf.
Haben Sie in dem Buch Ihre persönliche Wut über die Verdrängung der alteingesessenen Bewohner verpackt?
Gibt es ein Schlüsselerlebnis hierfür?
Tanya Lieske:
Die Umstrukturierung und Aufwertung ganzer innerstädtischer Viertel, die Verdrängung von einkommensschwachen Personen und Familien findet auch in Düsseldorf statt. Ich beobachte das mit Sorge, weil ich finde, dass Städte für alle da sein sollten, nicht nur für die gut Betuchten. Unsere Städte gehören allen, nicht nur den Reichen. Schlüsselerlebnisse gibt es, ich habe es selbst schon erlebt, dass mir gekündigt wurde, und ich erinnere mich gut an die damit verbundenen Ängste und Sorgen.
Analphabetismus wird aus Scham und Angst von den Betroffenen verschwiegen. Leider wächst die Zahl der lese- und schreibunkundigen immer weiter.
Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Tanya Lieske:
Lesen und Schreiben war für mich immer mehr als eine Kulturtechnik. Lesen und Schreiben garantiert allen Menschen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und mir ein großes Lebensglück. Wenn eins von beidem wegfiele, wäre das schrecklich. Ich stelle mir das manchmal vor, und dann ist der Schritt gar nicht so weit zu denen, die sich in genau dieser Lage befinden. Das sind in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, erstaunlich viele Menschen. Es gibt unter uns sieben Millionen funktionale und zwei Millionen totale Analphabeten. Das ist eine schreckliche Ausgrenzung und ein Armutszeugnis für unser Land. Ich zeige in meinem Buch, dass der Analphabetismus mitten unter uns ist, und welche Kraft die Betroffenen, die das als einen Makel empfinden, aufbringen müssen, um mit dieser Situation umzugehen.
War es von Anfang an für Sie klar, dass es eine Geschichte für Kinder werden soll?
Tanya Lieske:
Ja.
Worin besteht der Unterschied zwischen Analphabeten und funktionalen Analphabeten?
Tanya Lieske:
Analphabeten haben nie eine Schule besucht, in Deutschland betrifft das nach meinem Kenntnisstand vor allem Migranten. Funktionale Analphabeten waren in einer Schule, sie haben Lesen und Schreiben gelernt, aber vielleicht nicht die Förderung bekommen, die sie gebraucht hätten. Lesen und Schreiben ist wie Ballspielen oder Fahrradfahren – wenn man nicht dabei bleibt, verlernt man es wieder. Betroffen sind vor allem Menschen aus sozial schwachen Familien, aber das Thema zieht sich durch alle Schichten. Hier stelle ich ein Versagen unseres Schulsystems fest.
Oma Henriette ist eine außergewöhnliche Frau. Auf der einen Seite pragmatisch, stark und energiegeladen. Auf der anderen Seite ignorant und verletzlich, was ihre große Schwäche angeht. Mit einer ungeheuren Raffinesse schafft sie es, der Enkelin zehn Jahre lang ihr Geheimnis zu verbergen.
Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass diese ausgeklügelte Verschleierungstaktik bei Analphabeten auf lange Zeit erfolgreich hält?
Tanya Lieske:
Das habe ich nicht selbst erfahren, aber gut recherchiert. Alle Techniken der Oma Henriette – Brille verlegen, Stift verlegen, nur vertraute Wege gehen, Ämter meiden, sich bei den nächsten Personen Rat holen – werden von Analphabeten gebraucht, um sich in unserer sehr komplexen Umwelt zurecht zu finden. Wenn dieses System zusammenbricht, kann das eine sehr traumatische Erfahrung sein.
Wie kann man Ihrer Meinung nach, den erwachsenen Analphabeten die Scham und Angst vor ihrem Bekenntnis nehmen?
Tanya Lieske:
Schwierig. Gut hinschauen, und wenn man einen betroffenen Menschen trifft, diesen nicht ausschließen und diskriminieren. Hauptsächlich aber ist der Überlebenswille der Betroffenen gefragt. Tun die den ersten Schritt, greifen etwa zum Alpha-Telefon (0800 / 53 33 44 55) dann gibt es kompetente Hilfe.
Was auffällt, ist die Tatsache, dass Salila nicht in einem materiellen Reichtum groß wird, dafür von ihrer Oma mit sehr viel Liebe und Wärme umsorgt wird, obwohl ihre Eltern nicht mehr leben.
Immer mehr Eltern haben weniger Zeit für ihre Kinder oder nehmen sie sich einfach nicht.
War es Ihnen wichtig zu zeigen, dass Kinder auch in ungewöhnlichen Familienkonstellationen glücklich aufwachsen können?
Tanya Lieske:
Ja, das war mir wichtig. Oma Henriette ist eine kompetente Frau mit viel Herzenswärme und mit einer guten Intuition. Kinder brauchen eine stabile Umwelt, und das ist nicht immer an eine klassischen Familie oder viel Geld gebunden. Auch mit einfachen Mitteln lässt sich eine gute Kindheit schaffen, wenn Kinder ihren Bezugspersonen wichtig sind.
Wenn Sie mit diesem Buch auf Lesungen gehen, welche drei Fragen von Kindern wird Ihnen am häufigsten gestellt und wie lauten Ihre Antworten?
Tanya Lieske:
1. Schreibst du am PC oder von Hand?
Antwort: Beides. Ich schreibe sehr gerne mit der Hand und übe es hin und wieder, damit ich nicht verlerne, wie es geht.
2. Was macht ein Miethai von Beruf?
Antwort: Die meisten Miethaie machen nur das. Sie sind eben Miethaie. Und die meisten sind auch gar nicht nett – seht zu, dass Ihr nie einen trefft.
3. Heiraten Salila und Mehmet, wenn Sie groß sind?
Antwort: Was meint Ihr denn dazu? (Große Heiterkeit in den Dritten Klassen).
Gibt es schon neue Buchprojekte, auf die der Leser sich freuen darf und wollen, können Sie etwas darüber verraten, wann sie wo erscheinen?
Tanya Lieske:
Top secret.
Und zum guten Schluss die berühmten drei Fragen:
Wann schreiben Sie? (morgens, mittags, abends, immer)
Tanya Lieske:
Vorzugsweise morgens. Ab Mittag ist die Tinte trocken.
Wie schreiben Sie? (Laptop, per Hand, PC)
Tanya Lieske:
Siehe oben!
Wo schreiben Sie? (Küchentisch, Arbeitszimmer, Baumhaus, überall)
Tanya Lieske:
Baumhaus haben Sie gut erraten. Ich hätte schrecklich gerne eins und hoffe, dass die nächsten Jahre das noch bringen. Es gibt ein schönes Buch, das heißt „Treehouses of the World“, da suche ich mir immer das schönste aus. Phantastisch.
Im Moment muss ein ganz normaler Schreibtisch genügen. Die Arbeitsplatte war mal ein toller Kirschbaum.
Vielen Dank für die interessanten Antworten und viel Erfolg für alle weiteren „top secret“-Projekte.
Sabine Hoß