Aus dem Französischen von Corinna Tramm
Urachhaus & Freies Geistesleben, März 2013
192 Seiten, € 14,90
ab 12 Jahre
Inhalt:
Die 13-jährige Véro ist zunächst nicht sehr begeistert von der Tatsache, dass sie ihr Zimmer räumen muss, weil Mama`s Mutter zu ihnen zieht. Doch Omama vergisst in letzter Zeit sehr viel und seit dem kürzlich selbst gelegten Brand, an den sie sich nicht mehr erinnern kann, darf sie nicht nicht mehr alleine leben. Jetzt sorgt Omama allerdings für viel Durcheinander und chaotische Situationen im Familienleben. Bisher war es eigentlich schon alles andere als langweilig, denn Véro kämpft mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Guillaume, der seine angebliche Überlegenheit wann immer er kann seiner kleinen Schwester deutlich vorführt. Dann ist dann noch ihr Intellektuellen-Elternpaar; die Mutter ist Übersetzerin, der Vater ist Philosophielehrer. Zu alledem sorgt Omama nun für weitere Katastrophen, indem sie plötzlich nachts den Kühlschrank ausräumt und Geschirr zerschlägt, weil sie eine bestimmte Brosche nicht mehr findet, Schokoriegel und wertvolles Besteck unter ihrer Matratze sammelt oder sündhaft teure Telefonate ins Ausland führt, für die Véro und Guillaume natürlich zunächst verantwortlich gemacht werden. Doch neben all den teilweise amüsanten Vorfällen ist die traurige Tatsache nicht zu verleugnen, dass die Alzheimerkrankheit in rasantem Tempo Omamas Geist immer weiter verdunkelt. Véros Eltern und ihr Bruder kümmern sich liebevoll um die alte Dame, wobei Véros Mutter sich gegen ihren geldgierigen Bruder und dessen Frau durchsetzen muss, die auf Omamas Erbe scharf sind, aber keine Lust haben, sich um die Pflege zu sorgen.
Rezension:
Demenz und die Alzheimerkrankheit ist kein Thema, dass häufig in der Kinder- oder Jugendliteratur zu finden ist. Zu viel Befangenheit, Angst, Unsicherheit ist wohl damit behaftet, zu schnell kann es in sentimentale Klischees abrutschen. Dies hat der französische Autor Hervé Jaouen erfolgreich vermieden. Aus der Sicht der 13-jährigen Véro lässt sie den Leser an dem neuen, turbulenten Familienalltag teilhaben. Sie kämpft mit den typischen Problemen als jüngere Schwester mit einem älteren und allwissenden, überheblichen Bruder, mit den vielfältigen Problemen eines pubertierenden Teenagers, dazu kommt nun noch ihre Omama, die sich von einem Sommer bis zum nächsten Frühling in rasantem Tempo durch die Demenz dramatisch verändert. Jaouen gelingt es sensibel, mit feinem, klugen Humor die alte Dame mit ihrer Vergesslichkeit und den vielen absurden und chaotischen Situationen, die durch die Alzheimerkrankheit entstehen, an keiner Stelle ins Lächerliche abgleiten zu lassen noch die furchtbare Tatsache, dass ein von außen gesunder aussehender Mensch geistig immer mehr zu einer körperlichen Hülle zerfällt, auf sentimental-kitschige Weise zu beschreiben. Was nicht bedeutet, dass er durchaus traurige Gefühle und Momente zulässt, wie dieser Satz beweist: „Omama ist ein Baum, und die Blätter sind ihr Gedächtnis. Die Krankheit hat sie abgetrennt, wie sich in den alten Schwarz-weiß-Filmen die Blätter von einem Abreißkalender ablösen und davonfliegen, damit du wirklich verstehst, dass die Zeit dahingeschwunden ist.“ Durch die manchmal nüchterne und dann wieder feinfühlige Betrachtungsweise des Teenagers Véro wird die Verletzlichkeit der Oma aber auch die der betreuenden Familie deutlich gemacht.
Natürlich stößt die Familie, die sich rührend und liebevoll um Omama kümmert, immer wieder an ihre Grenzen. Zum Beispiel dann, wenn Omama die monatelange und noch nicht gesicherte Übersetzungsarbeit der Mutter mit einem Tastenschlag ins Aus befördert, während ihre Tochter für sie den Tee bereitet. Dann fühlt sie sich hilflos, überfordert und traurig, was nur natürlich und nachvollziehbar ist. Amüsant, und doch an einigen Stellen alles andere als lustig, die Familie des zweiten Kindes von Omama. Der ältere Bruder von Véros Mutter ist ein verschuldeter, geldgieriger Mann, der von seiner noch geldgierigeren Ehefrau unterstützt wird, noch zu Lebzeiten das Erbe von Omama großzügig zu ihren Gunsten aufzuteilen, dabei ist die Pflege und das Wohlergehen der alten Dame unwichtig. Auch das dürfte nicht übertrieben sein und in der Realität sicher immer wieder so erlebt werden. Der Schluss der humorvoll-traurigen Familiengeschichte, die neben dem ganz normalen Trubel einer vierköpfigen Familie die Pflege eines an Demenz erkrankten Familienmitglieds authentisch beschreibt, ist konsequenterweise kein Happy End und bleibt offen. Trotzdem ist es ein wunderbar positives Buch, das sich klug und mit feinem Humor mit dem ernsten Thema Demenz und Pflege innerhalb der Familie auseinander setzt.
In Frankreich gehört dieses Buch inzwischen zur Pflichtlektüre in den französischen Collèges.
Corinna Tramm hat dieses Werk feinfühlig und mit der entsprechender Balance zwischen Witz und Ernst treffend übersetzt.
Das Cover ist Geschmackssache, stimmt jedoch mit dem abgebildeten bebrillten „Blindenhund“ und dem Strand durchaus zu einer Situation im Buch überein.
Sabine Hoß
Bewertung: