Nataly Elisabeth Savina
Beltz & Gelberg, März 2013
160 Seiten, € 12,95
ab 14 Jahre
Inhalt:
Alice ist 14 Jahre und es gewohnt, ständig mit ihrer Mutter von einem Ort zum anderen zu ziehen. Ihre Mutter ist Opernsängerin und mit den immer wieder neuen Spielzeiten ergeben sich auch immer wieder neue Wohnorte. Alice bleibt nie lange an einer Schule, hat kaum Gelegenheit Freundschaften zu bilden. Mit ihrer Mutter redet sie kaum, was zum einen in der Pubertät einfach mal so ist, zum anderen ist Alice` Mutter nicht nur exzentrisch sondern auch äußerst egoistisch. Alice kennt keine warmherzige Liebe oder ein behütetes Zuhause, aktuell bilden ein Plüschvogel und ein Marmorei, das sie „ausbrütet“, ihr Nest. Als sie an ihrem neuen Wohnort gestrandet sind, lernt Alice in der Schule ein seltsames Mädchen kennen: Cherry, die eigentlich Kristin heißt. Mit ihren schwarzen Klamotten, abweisenden und dennoch selbstbewussten Verhalten ist sie in der Klasse eine Außenseiterin. Ausgerechnet mit ihr freundet sich Alice an und gemeinsam stromern sie durch verschneite Wälder, bauen sich aus Tannen eine Höhle, legen sich auf Zuggleise – und vergessen beide die Zeit. Darüber ist Alices Mutter alles andere als begeistert und macht zunächst Cherrys Vater Vorwürfe, dass er seine Tochter nicht im Griff hat. Wegen einer missverständlichen Situation in der Schule geraten die beiden Mädchen in Streit und Cherry lässt sich nicht mehr blicken. Kurz vor ihrer Karateprüfung meldet sie sich bei Alice und fragt, ob sie sie begleitet. Diese hat aber gerade ganz andere Probleme. Ihre Mutter soll zu einer ganz wichtigen, karriereentscheidenden Premiere, diese liegt jedoch apathisch und depressiv im Bett. Alice ist überzeugt davon, dass ihre Mutter mehr kann, als sie sich im Moment zutraut und muss alles dafür tun, sie aus dem Bett und auf die Bühne zu bekommen. Cherry geht alleine zur Karateprüfung, kehrt aber nicht mehr nach Hause zurück. Etwas unfassbares, womit keiner gerechnet hat, ist geschehen…
Rezension:
Alle zwei Jahre wird von der Stadt Weinheim gemeinsam mit dem Beltz & Gelberg-Verlag der Peter-Härtling-Preis vergeben und in den letzten Jahren waren es Bücher, die auch über die Kritikerjury hinaus und auch bei mir große Begeisterung fand. Somit bin ich immer neugierig auf das ausgewählte Buch und war es auch in diesem Jahr. Die junge Autorin Nataly Elisabeth Savina, deren erstes Buch „Herbstattacke“ 2012 beim Carlsen-Verlag erschien, wurde mit ihrem „mutigen und gekonnt choreographierten“ Manuskript von der beeindruckten Jury ausgewählt.
Alice beschreibt in kurzer, knapper Sprache ihr einsames und liebloses Leben. Es ist geprägt von Ruhelosigkeit und Kommunikationslosigkeit zwischen ihr und der Mutter. Es lebt aber auch von überspannten Klischees. So werden bei der Mutter, die als Opernsängerin natürlich dem Berufsbild einer Künstlerin angehört, alle vorhandenen Register einer exzessiven und egozentrischen Operndiva gezogen. Doch eine Diva im eigentlichen Sinne ist Alice` Mutter nicht, sonst müsste sie sich nicht mit jeder Spielzeit von einem Engagement zum nächsten reisen. Mit dieser Präsentation wirkt die Mutter auf Anhieb unsympathisch und selbst ihre zaghaften, unbeholfenen Annäherungsversuche zu Alice verbessern dieses Empfinden nicht. Alice ist eine Person, mit der man Mitleid hat, da man ihre Suche nach Liebe, Geborgenheit, Verständnis und Wärme und allzu gut nachvollziehen kann. Cherry ist der Kontrapunkt, sie scheint offenbar ganz klar zu wissen, was sie will und was sie nicht will, obwohl auch sie auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit ist. Denn auch sie seit dem Tod ihrer Mutter mit dem Vater alleine, der seine Trauer und seinen Frust mit Alkohol betäubt. Der flirtende Beziehungsversuch zwischen Cherrys Vater und Alice` Mutter wirkt unglaubwürdig und hat keinen wirklichen Sinn in der Geschichte. Mit Cherry macht und erlebt Alice Sachen, die sie zuvor noch nie so erfahren hat. Wie unvorsichtig, ja man möchte schon fast sagen todessehnsüchtig Cherry ist, zeigt die höchst gefährliche Situation, als die beiden ihre Köpfe ganz nah an Zugschienen legen und sich nicht zurückziehen, als der Zug angerast kommt. Als Alice Mutter in Panik ausbricht, weil ihre Tochter nicht zu Hause ist und telefonisch unerreichbar bleibt, flechtet die Autorin mit einem Nebensatz die Tatsache ein, dass es durch einen Zeitungsartikel berechtigte Gründe gibt, deswegen Angst zu haben. Damit ist schon recht früh absehbar, was Cherry später zustoßen wird, als sie nach der Karateprüfung nicht nach Hause zurückkehrt. Natürlich bleibt diese Tatsache erschütternd, aber sie überrascht den Leser nicht wirklich. Die parallel ablaufenden Handlungsstränge, während Cherry ihren letzten Kampf kämpft und Alice ihre Mutter eindringlich aus dem Bett auf die Bühne redet, machen betroffen, genauso wie die spätere Hilflosigkeit und Unsicherheit der Erwachsenen. Trotzdem hallt diese Geschichte nicht wirklich nach oder macht nachdenklich.
Es ist eine sprachlich komprimierte und melancholische Geschichte, die trotz ihres überzogenen dargestellten Künstler-Klischees konsequenterweise kein Happy-End hat. Vielleicht hat es daran gelegen, dass ich zu der erzählenden Alice keine wirkliche Beziehung aufbauen konnte, vielleicht habe ich zu viele Sehnsüchte, Erstarrung und Verstörtheit von zwei Mädchen gesehen und zu wenig Kontext und sicher hat mich auch die allzu frühe Vorhersehbarkeit gestört, was mit Cherry passiert ist.
Jedenfalls bin ich nicht so beeindruckt von dem Buch, wie es offenbar die Kritikerjury gewesen ist und daher überrascht, dass dieses Manuskript als das Beste für den Peter-Härtling-Preis 2013 ausgewählt wurde.
Das Cover zeigt eine leicht kitschig-verspieltes Foto, das zu allem und nichts passt, aber ganz klar macht, das es eine Geschichte nur für Mädchen ist.
Sabine Hoß
Bewertung: