Sharon M. Draper
Aus dem Amerikanischen von Silvia Schröer
Ueberreuter, 17.02.2014
320 Seiten, € 14,95
ab 14 Jahre
Die siebzehn Jahre alte Melody ist seit einem Geburtsschaden an der seltenen Behinderung der spastischen Tetraplegie, auch Zebralparese genannt, erkrankt. Dies bedeutet (in ihrem Fall), dass zwar ihr Körper sehr stark beeinträchtigt ist, nicht aber ihr Verstand. Melody kann nicht ohne Hilfe essen, trinken, selbst die einfachsten Bewegungen sind ihr unmöglich und nur den Elektro-Rollstuhl kann sie alleine bedienen. Obwohl die Kommunikation mit anderen fast unmöglich ist, hat Melody ein schnelles Auffassungsvermögen und ihr Gedächtnis besitzt eine unglaubliche Kapazität.
Die Eltern lieben ihre Tochter über alles und vor allem ihre Mutter glaubt an ihre Fähigkeiten und kämpft um sie. Auch die Nachbarin, Mrs Violet Valencia, kümmert sich liebevoll um das Mädchen und erkennt früh, dass sie über ein enorm geistiges Potential verfügt. Seit fünf Jahren besucht Melody die Spaulding Street Elementary School, eine Schule mit einem speziellen Programm für Kinder mit „Beeinträchtigungen“. Auch hier ist sie durch ihre Sprachlosigkeit eine Außenseiterin und wird von den anderen Schüler/-innen nicht ernst genommen. Wörter sind für Melody das Größte, sie sammelt sie wie einen Schatz, unfähig jedoch, sich auch nur mit einer Silbe ihrem Gegenüber verständlich zu machen. Nur mit Hilfe einer Wörtertafel kann sich Melody mitteilen, die aber in keiner Weise für Melodys Bedürfnisse ausreicht. Durch eine Mitschülerin kommt sie auf die Idee, dass sie durch einen umgebauten Computer, einem Sprachgenerator, die Möglichkeit bekommen würde, sich endlich mit anderen „unterhalten“ zu können.
Als die Klasse zum wiederholten Mal an einem Quizturnier teilnimmt, bekommt Melody durch den Sprachgenerator die Möglichkeit, ihr Wissen zu zeigen, denn sie beantwortet selbst die schwierigsten Fragen richtig. Damit verblüfft sie nicht nur ihre Mitschüler sondern auch die Lehrer. Trotz aller Skepsis wird Melody in das Quizteam aufgenommen, denn sie ist mit ihrem Wissen unschlagbar. Das Team der Schule ist hoch motiviert, denn die Gewinnerteams aus dem ganzen Land fahren zum Bundesentscheid nach Washington D.C. und der Wettbewerb wird auch im Fernsehen übertragen. Für Melody eine bedeutungsvolle Möglichkeit zu zeigen, dass sie trotz ihrer schwersten körperlichen Behinderungen geistig „normal“ ist.
Sharon M. Draper lässt die Protagonistin Meldoy aus ihrer Sicht in einer lebendigen, emotional berührenden Sprache erzählen. Ein zehnjähriges Mädchen, das mit nüchterner Klarheit über die Ausmaße ihrer schweren Behinderungen spricht. Melodys Authentizität, Offenheit, ihren Zustand unverklärt darzustellen, ihre Verzweiflung darüber, nichts selbständig machen zu können und vor allem ihre Unfähigkeit, sich mitteilen zu können, macht den Leser betroffen.
Melody weiß, dass sie intelligent ist, eine schnelle Auffassungsgabe und ein hervorragendes Gedächtnis hat und mit ihren Fähigkeiten sogar Nichtbehinderten überlegen ist. Doch sie muss zusehen, dass weder Ärzte noch Lehrer oder ihre Mitschüler ihr diese Fähigkeiten zunächst zugestehen und sie ernst nehmen. Ein verzweifelter Kampf, der mit einer bewegenden, schonungslosen Transparenz und Intensität beschrieben wird.
Trotz ihrer sehr eingeschränkten Möglichkeiten ist Melody ein positiv eingestelltes Mädchen, die nicht den Blick für kleine, positive Moment in ihrem Alltag verliert, was bewundernswert ist. Ihre große Liebe gehört Wörtern und Musik. Rhythmen und Worte kann sie nicht mitsingen oder mitwippen, dafür bilden sie in ihrem Kopf ein vergleichbares farbenprächtiges Gebilde von Gerüchen, Farben und unterschiedlichen Geschmacksvarianten. Beschreibungen, die faszinieren.
Als Melody eine kleine Schwester bekommt, rückt ihre zentrale Stelle in der Familie ein wenig nach hinten, was realistisch und natürlich ist. Trotzdem wird Melody nicht eifersüchtig, im Gegenteil, sie liebt ihre Schwester Penny über alles. Obwohl die Eltern und vor allem ihre Mutter sich hingebungsvoll um ihre Tochter kümmern und die Mutter wie eine Löwin kämpft, wenn andere Melodys geistiges Potential nicht erkennen wollen , ist es nicht wirklich nachvollziehbar, warum Melody durch Zufall auf die Möglichkeit eines Sprachcomputers stößt. Das scheint konstruiert und hergeholt, denn es ist davon auszugehen, dass, nicht nur durch das Beispiel Stephen Hawkings, Eltern dieses wertvolle Hilfsmittel kennen.
Ab der Mitte des Buches flacht die Geschichte leider in ausschweifende und triviale Beschreibungen rund um den Quizwettbewerb ab und wird dadurch oberflächlich „amerikanisch“. Kapitelweise geht es um Quizfragen und deren Antworten, was langweilt und in dieser Ausführlichkeit unbedeutend ist. Das ist wirklich schade, denn hier geht die aufgebaute Intensität über Melodys Persönlichkeit und die Spannung, wie sie es trotz aller Widrigkeiten geschafft hat, in das Quizteam zu gelangen, ein Stück weit verloren. Erst zum Ende der Geschichte gelingt es der Handlung durch überraschende Wendungen den Leser wieder in den Bann zu ziehen. Zudem gibt es einen weiteren, dramatischen Höhepunkt, in dem noch einmal ganz klar wird, mit welchem furchtbaren Handicap Melody ständig leben muss, das sogar ihre Mutter zu einem folgenreichen Kontrollverlust bringen lässt.
Sharon Draper ist in Amerika eine bekannte und erfolgreiche Schriftstellerin. „Mit Worten kann ich fliegen“ stand, wie viele andere Bücher der Autorin, über 50 Wochen auf der „New-York-Times“-Bestsellerliste. Leider hat das Buch im Vergleich zu „Wunder“ von Raquel Palacio (Hanser) oder „Das Leben ist ein mieser Verräter“ von John Green (Hanser) klare Schwächen, die durch Kürzung vermeidbar gewesen wären.
Die packende Geschichte besticht durch die sympathische Melody, die trotz schwerster Behinderung eine Kämpferin ist und „Ja“ zum Leben sagt. Ein Buch, das man nach dem Lesen nicht einfach zur Seite legt, sondern nachhallt.
Silvia Schröer hat die verschiedenen Gefühle und Atmosphäre von Melody in einer stimmigen Übersetzung wunderbar transportiert.
Das recht farblose Cover wird dem Roman allerdings nicht gerecht. Die Pusteblume versucht zwar eine Assoziation zu „fliegenden Worten“ herzustellen, was aber nur blass rüberkommt.
Sabine Hoß
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