Was wären all die wunderbaren Bücher ohne den Buchhandel vor Ort und kompetente und freundliche Buchhändler/-innen?
Ein guter Grund für ein Gespräch rund um die unendliche Bücherwelt mit der fachkundigen und sympathischen Buchhändlerin Ingrid Voigt zu führen.
Die Ausbildung hat Ingrid Voigt im Buchladen Pontstraße 39 in Aachen gemacht, dann folgten Stationen in der Jülicher Bücherstube und seit 1985 berät sie mit viel Wissen und Charme in der Mayerschen Buchhandlung. Seit 1990 ist die Kinder- und Jugendliteratur ihr Spezialgebiet, seit 2009 leitet sie in Aachen die Kinder- und Jugendbuchabteilung.
Stichwort Entwicklung im Kinder- und Jugendbuch: Welche bemerkenswerte Veränderungen beobachten Sie in den letzten Jahren?
Ingrid Voigt:
Seit Erscheinen von Harry Potter 1998 sind immer mehr Fantasy-Romane, Trilogien und Serien erschienen, seit Collins „Tribute von Panem“ auch vermehrt Dystopien. Dieser Trend hält immer noch an – allerdings scheinen die Verlage mittlerweile auch wieder auf realistische Bücher zu setzen.
Was würden Sie sich an Entwicklung wünschen, was fehlt Ihnen generell?
Ingrid Voigt:
Es gibt immer wieder sehr gute Fantasy oder Science Fiction, aber was mir immer wieder fehlt, sind Bücher dieses Genres, die auch einmal witzig und humorvoll geschrieben sind (wie: Lukianenko, Trix Solier), ebenso Romane ab 14, bei denen man auch einmal herzhaft lachen kann. Jugendliche brauchen selbstverständlich auch ernsthafte Literatur, aber nicht nur. In der Literatur für Jüngere ist so etwas häufiger zu finden!
Immer wieder hört man den Satz in der Branche „Die Buchszene ist im Umbruch“ – Dieser Satz wirkt mittlerweile wie eine müde Entschuldigung für verpasste Chancen und Mutlosigkeit, neue, unbekannte Wege zu gehen.
Was fällt Ihnen dazu ein? Wie und wo sehen Sie den Umbruch aktuell im Buchhandel?
Ingrid Voigt:
Die Leser bestellen zunehmend im Internet: es ist bequem, man muss sich nicht dem Wetter oder anderen Unannehmlichkeiten aussetzen und dann natürlich das E-Book, das auch immer häufiger für Kinder und Jugendliche gekauft wird.
Was beobachten Sie, wenn Eltern mit ihren Kindern in Ihre Abteilung kommen – würden Kinder/Jugendliche andere Bücher auswählen, wenn sie ohne Einfluss der Erwachsenen entscheiden könnten?
Ingrid Voigt:
Das ist unterschiedlich: Manchmal sind Eltern so froh, dass ihr Kind überhaupt liest (insbesondere bei Jungen), das es ganz nach eigenem Wunsch aussuchen darf. Dann wieder wünschen sich Eltern ein anspruchsvolleres und das Kind bzw. der Jugendliche lieber das unterhaltsame Buch. Es gibt allerdings auch noch eine dritte Variante (allerdings habe ich diese bisher nur bei Mutter und Tochter beobachtet: beide lesen dasselbe Buch!
Müssen die Eltern abgelenkt werden, damit die Kinder nach ihrem eigenen Geschmack aussuchen können – und mit welchem Buch gehen diese dann zur Kasse?
Ingrid Voigt:
Manchmal schon, da die Eltern lieber ein „gutes Buch“ für ihr Kind wünschen – dann spreche ich mit ihnen, bis ich bemerke, dass es sich für eines entschieden hat. Dann kann ich im Idealfall noch ein literarischen Titel empfehlen und sie gehen mit beiden Büchern zur Kasse – und Idealfall meine ich jetzt nicht wegen des größeren Umsatzes, sondern weil so eher beide Kunden zufrieden sind. Das Kind weil es sein Lieblingsbuch bekommt und der Erwachsene, weil er dem Kind die Unterhaltung nach der „Arbeit“ geben kann.
Kommen mehr Mädchen als Jungs auf Büchersuche?
Ingrid Voigt:
Auf jeden Fall! Etwa 2/3 Mädchen und 1/3 Jungen.
Die meisten Verlage wünschen einen „love interest“ , also eine Liebesbeziehung in den Plots. Es gibt tolle Bücher mit einer zarten Liebesnote, die von der Geschichte her aber auch für Jungs interessant sind.
Was machen Sie, wenn Erwachsene zur Beratung für Ihren Sohn oder Enkel kommen und fragen: „Kommt da auch Liebe drin vor?“
Ingrid Voigt:
Ich sage auf jeden Fall, dass auch Liebe eine Rolle spielt, aber nicht die Hauptsache in der Geschichte ist.
Die Verlage haben neben der Unterteilung Kinder- und Jugendbuch auch seit Rowlings „Harry Potter“ das berühmt-berüchtigte „all-age“-Buch erfunden. Machen Sie persönlich diese Unterscheidung zwischen Jugendbuch und „all age“?
Ingrid Voigt:
Eigentlich nicht, für mich sind alle Kinderbücher auch für alle geeignet! Man nehme nur das wunderbare Buch von „Hub, An der Arche um Acht“ – meiner Meinung nach eine alterlose Geschichte, für jedermann schön zu lesen. Das Problem ist nur die Schwellenangst vieler Erwachsener, die nicht in die schönste Abteilung einer Buchhandlung kommen, weil sie nicht „nur“ ein Jugendbuch lesen wollen.
Beobachten Sie eine zunehmende Spirale an Macht und Gewalt in Jugendbücher und finden Sie das bedenklich?
Ingrid Voigt:
Seit den „Tributen von Panem“ auf jeden Fall. Bedenklich… Ja und nein. Bücher mit ähnlichem Inhalt würde ich auf gar keinen Fall unter der empfohlenen Altersangabe verkaufen! Außerdem nachfragen, ob er/sie schnell ängstlich ist und welche Bücher schon gelesen worden sind. Viele Jugendliche sind bereits durch den Herrn der Ringe an einiges gewöhnt und dann finde ich es eher nicht bedenklich. Hauptsache ist jedoch, dass die Jugendlichen auch darüber sprechen und nicht alles für sich behalten.
Die Verlagsvorschauen sind zunehmend gleich geworden. Es gibt einige Trends und eine Auswahl bestimmter Themen, die ausgeschlachtet werden z.B. Dystopien im Fantasybereich oder Thriller. Gab es früher mehr Mut zu unterschiedlichen Programmen und Themen?
Ingrid Voigt:
Es sieht so aus, pauschal gesagt finden Sie in jeder Vorschau Fantasy und Thriller. Auf jeden Fall stand früher meist eine Verlagsvorschau für ein bestimmtes Programm. Hier zwei Beispiele: Beltz hatte immer ein anspruchsvolles Programm, das hat sich bis heute nicht geändert, es ist nur kleiner geworden und bei ihnen ist auch die Fantasy mit dazugekommen – bei Carlsen ist es umgekehrt, dieser Verlag hatte früher ein eher leichtes Programm, seit Harry Potter sind jedoch noch einige wirklich sehr schöne und anspruchsvolle Titel dazugekommen.
Stichwort Deutscher Jugendliteraturpreis – Werden Ihrer Meinung nach die Nominierungen und Preisträger ausreichend von den Buchhandlungen präsentiert – und von den Kunden bzw. der Zielgruppe wahrgenommen??
Ingrid Voigt:
Zu Punkt 1 kann ich nur für unsere Buchhandlung sprechen: Sobald die Nominierungen feststehen und das entsprechende Plakat eingetroffen ist, machen wir einen Tisch zu dem Thema. Die Jugendlichen/Kinder haben mich soweit ich mich erinnere noch nie darauf angesprochen, die Erwachsenen schon, anders als in früheren Jahren jedoch bei weitem seltener.
War das einmal anders? Welche Entwicklung sehen Sie hier?
Ingrid Voigt:
Bis 1996 wurde zeitgleich mit den Preisbüchern die so genannten Auswahlliste bekannt gegeben. Seit einer Umstrukturierung des Preises 1996 wurde die Auswahlliste durch eine Nominierungsliste ersetzt. Die Nominierungsliste wird jedes Jahr im Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Aus den Nominierungen werden in einem zweiten Schritt die Preisträger ermittelt; die Preisverleihung erfolgt jährlich im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse.
Früher waren die Kunden immer schon gespannt auf die Verleihung und das hat sich oft auch in den Verkaufszahlen niedergeschlagen. Mittlerweile wird die Auswahlliste immer weniger beachtet.
Hat der Preis Ihrer Meinung nach heute noch eine besondere Bedeutung?
Ingrid Voigt:
Für eine begrenzte Anzahl von Kunden ja, die aber von Jahr zu Jahr abnimmt. Vielleicht liegt es an der langen Zeit, die zwischen Nominierung und Preisverleihung liegt.
Heute übernehmen viele Blogger und Webliteraturtportale die Beratung und Weiterempfehlung von Büchern. Stellen Sie fest, dass Jugendliche bereits mit gezielten Vorstellungen in den Laden kommen?
Ingrid Voigt:
Bei vielen Jugendlichen ist es so.
Wie gelingt es Ihnen, Titel weiterzuempfehlen, die Ihnen besonders am Herzen liegen aber abseits vom Mainstream sind?
Ingrid Voigt:
Indem ich versuche, meine Begeisterung für dieses besondere Buch weiterzugeben
Sie waren 2012 in der fünfköpfigen Jury (Tilman Spreckelsen (F.A.Z.), Anja Kemmerzell (Chicken House, Deutschland), zwei jährlich wechselnde Buchhändler und ein Jugendbuch-Schriftsteller) zum Preis „Der Goldene Pick“, der seit 2010 einmal jährlich für ein unveröffentlichtes Manuskript junger, unbekannter Autoren von der FAZ und Chicken House/Carlsen Verlag vergeben wird. Erzählen Sie doch ein wenig über diese Juryarbeit.
Wie viele Manuskripte wurden eingereicht und wie viele mussten Sie lesen?
Ingrid Voigt:
Etwas mehr als 100 Manuskripte wurden eingereicht, selbst lesen musste ich 5.
Für welches Lesealter wird ausgesucht, eher Kinder- oder Jugendbuch?
Ingrid Voigt:
Das ist völlig offen, eingereicht werden Manuskripte für fast jedes Lesealter.
Gab es bestimmte Kriterien, unter denen die Jury bewertet hat?
Ingrid Voigt:
Es wurde geurteilt nach Sprache, Originalität, Schlüssigkeit…
Wie schwierig ist es bei mehreren Manuskripten und einer 5-köpfigen Jury sich auf den Sieger zu einigen, wie läuft dieser Prozess ab?
Ingrid Voigt:
Es war erstaunlich einfach, sich auf ein Manuskript zu einigen: wir haben die Sache von hinten „aufgezäumt“ und zunächst die aussortiert, die wir uns nicht als Gewinner vorstellen konnten, bis nur noch zwei Manuskripte übrigblieben. Über diese beiden haben wir diskutiert, das Für und wider erwogen und schließlich den Sieger ermittelt.
Als Buchhändlerin ist Ihnen das haptische Buch sicher immer näher als E-books. Benutzen Sie einen E-Book-Reader, alternativ Tablet-PC zum Lesen – und wenn ja, ist das Lesen mit einem solchen Gerät „anders“ als mit einem haptischen Buch?
Ingrid Voigt:
Ja, ich besitze einen E-Reader, aber nur für die Reise! Zu Hause geht doch nichts über das gute nach Druckerschwärze riechende Buch, bei dem ich die Seiten umblättern kann und bei dem ich nicht auf Knöpfe drücken muss
Wenn Sie zwei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich a) für den Buchhandel und b) für die Kinder- und Jugendliteratur wünschen?
Ingrid Voigt:
a) Amazon existiert nicht
b) Kinderreiche Jahrgänge und dass diese Kinder und späteren Jugendlichen genauso viel Freude an Büchern bekommen wie ich sie habe.
Liebe Frau Voigt, vielen herzlichen Dank für Ihre ausführlichen, interessanten Antworten und das nette Gespräch zwischen Buch und Deckel.
Sabine Hoß