Grit Poppe wurde 1964 in Boltenhagen geboren und ist die Tochter des Physikers und Bürgerrechtlers Gerd Poppe. In Stahnsdorf aufgewachsen wohnt Grit Poppe heute mit ihrer Familie in Potsdam. Obwohl sie schon immer Schriftstellerin werden wollte, machte sie zunächst einmal eine Lehre als Sekretärin bzw. zum „Facharbeiter für Schreibtechnik“ und arbeitete danach im DEFA-Studio für Spielfilme und später in der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Von 1984 bis 1988 kam Grit Poppe ihrem Traumberuf einen Schritt näher, sie studierte am Literaturinstitut in Leipzig. 1989 erschien ihr erster Erzählband „Der Fluch“. Während der Friedlichen Revolution schloss sie sich der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ – später Bündnis 90) an und war bis 1992 Geschäftsführerin für das Land Brandenburg. Parallel zu ihren politischen Aktivitäten entwickelte sich auch ihre schriftstellerische Arbeit: Dabei balanciert sie in ihren Romanen und Geschichten für Erwachsene und Kinder zwischen Fantasy und der Realität. „Andere Umstände“ (Berlin Verlag, 1998) war ihr erster großer Erfolg. Zwischen 2006 und 2012 erschienen zahlreiche Kinderbücher, u. a. beim Arena Verlag, Edition Bücherbär, die „Dragid Feuerherz“-Reihe, sowie „Käpten Magic“ und „Anderswelt“, beides im Dressler Verlag. Ihren durchschlagenden Erfolg erhielt sie 2009 mit ihrem realistischen Jugendroman „Weggesperrt“, Dressler Verlag, der 2010 mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnet wurde. Dieser Roman wurde 2011 als Ganzschrift für die Realschulabschlussprüfung in Baden-Württemberg ausgewählt.
Ihr aktuelles Buch „Abgehauen“, Dressler, 2012, knüpft inhaltlich an „Weggesperrt“ an.
Für „Bücher leben!“ nahm sich die erfolgreiche Autorin, die das Meer liebt und mit Staubsaugern kämpft, Zeit für ein Interview.
„Weggesperrt“ erschien 2009, also 20 Jahre nach dem Mauerfall. Viele Menschen wurden erst durch dieses Buch auf die furchtbaren Zustände in dieser Erziehungsanstalt aufmerksam.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum nicht schon viel früher ehemalige Betroffene auf die furchtbaren Erlebnisse in dem geschlossenen Jugendwerkhof aufmerksam gemacht haben?
Grit Poppe:
Die Menschen, die in Torgau waren, wurden nachhaltig traumatisiert. Viele haben das Erlebte erst einmal verdrängt, aber dann bricht es bei den meisten irgendwann wieder auf, oft in einer Krisensituation, z. B. während einer Scheidung oder bei einem Todesfall eines Angehörigen. Das Ganze wird wieder ins Bewusstsein gespült sozusagen, aber das heißt noch lange nicht, dass der Betroffene auch darüber reden kann. Hinzukommt, dass über den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau zu DDR-Zeiten nicht gesprochen werden durfte und nicht gesprochen wurde. Die Jugendlichen, die aus dieser Disziplinaranstalt entlassen wurden, mussten eine Schweigeverpflichtung unterschreiben – mit der Drohung, ansonsten erneut nach Torgau eingewiesen zu werden. Aber auch nach 1989 haben die Menschen nicht automatisch angefangen ihre Geschichten zu erzählen. Viele hatten das Gefühl: Das glaubt mir sowieso niemand.
Haben die ehemaligen Insassen von Torgau, mit denen Sie während Ihrer Recherchearbeiten gesprochen haben, auch Jahre nach der Wiedervereinigung Angst, Scham gehabt, über die Misshandlungen und Arreste offen zu reden, weil sie immer noch Verfolgung und Bestrafung befürchteten?
Grit Poppe:
Die mit denen ich hauptsächlich gesprochen habe, sind den Weg in die Öffentlichkeit ja ganz bewusst gegangen. Dennoch ist ein Gespräch über so schwerwiegende Erlebnisse immer schwierig. Einerseits ist da auf Seiten der Betroffenen der Wunsch alles zu erzählen, was in Torgau und auch in anderen Jugendwerkhöfen und Durchgangsheimen passiert ist, andererseits gehen sie ja immer wieder in ihre Vergangenheit zurück, sehen die Bilder der Zellen und Gitter wieder vor sich, spüren ihre eigene Verlorenheit, wenn sie z. B. über den Einzelarrest reden, das ist natürlich auch schmerzhaft. Also insgesamt gehen sie ganz offen damit um. Es gibt aber auch „schlimmste Erlebnisse“, über die nicht frei gesprochen wird, weil es einfach nicht geht, da bleibt es meist bei Andeutungen, die dann schon schwer genug wiegen.
Verfolgung und Bestrafung fürchten sie heute zum Glück allerdings nicht mehr. Sie wünschen sich ganz einfach die Aufmerksamkeit, die ihnen bisher entzogen wurde, die ernstgemeinte Anerkennung der Gesellschaft. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber nicht. Zwar wird der Aufenthalt im Jugendwerkhof Torgau heute rehabilitiert, aber der Freiheitsentzug in den Durchgangsheimen oder in den „normalen“ Jugendwerkhöfen wird äußerst selten rehabilitiert. Die Rede ist davon, dass 1 % der Anträge bei Gericht durchkommen. Das heißt für die Opfer, dass sie wieder kämpfen müssen, wenn sie zu ihrem Recht auf Anerkennung kommen wollen. Da bedarf es einer gesetzlichen Regelung bzw. der Anwendung des „Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen“ auch für diese Gruppe von Betroffenen.
Wie schwer war es, die Betroffenen heute zum offenen Reden über ihre Erlebnisse zu bewegen?
Grit Poppe:
Nicht schwer. Der Drang zum Erzählen war einfach da. Es musste raus und je mehr zuhören, umso besser.
Das trifft natürlich nur auf die Zeitzeugen zu, die in der Lage sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Das sind die wenigsten.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich noch einmal ganz herzlich bei Stefan Lauter, Kerstin Kuzia und Kathrin Begoin zu bedanken. Sie haben mich bei vielen Lesungen begleitet, z. B. in Baden-Württemberg, wo „Weggesperrt“ Prüfungslektüre war, und immer wieder neu den Mut und die Kraft aufgebracht über die schwerste Zeit ihres Lebens vor meist jungem Publikum zu reden.
Glauben Sie, dass es noch mehr verschwiegene und unter den Tisch gekehrte „Tabu“-Institutionen in der DDR gab, die es zu enthüllen gilt?
Grit Poppe:
Ja. Z. B. ist die Geschichte der Durchgangsheime noch nicht erforscht. In Bad Freienwalde (Land Brandenburg) gab es ein Durchgangsheim, das wie der GJWH Torgau, ein Knast war und dort wurden schon Kinder ab 3 Jahren „untergebracht“. Die Zöglinge, die sich teilweise monatelang dort aufhielten, wurden für kleinste Vergehen mit Arrest, Essensentzug und Zwangssport bestraft. Spätestens ab 14 Jahren mussten die Jugendlichen nach Norm arbeiten. Einen Lohn erhielten sie nicht.
Wie sind Sie auf den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gestoßen, sind sie durch ihre politischen Aktivitäten darauf aufmerksam gemacht worden?
Grit Poppe:
Nein, 1989 ging es ja darum die SED zu entmachten und endlich auch grundlegende demokratische Rechte für die Menschen in der DDR zu erreichen.
Natürlich hatte die Friedliche Revolution und der Sturz der SED-Regierung Auswirkungen auf die Jugendhilfe-Einrichtungen. So wurde der GJWH Torgau im November 1989 endlich geschlossen. Die anderen 32 Jugendwerkhöfe gab es noch bis 1990.
Auf den GJWH Torgau bin ich durch Recherche gestoßen. Mir war schon klar, dass ich einen spannenden Jugendroman über die DDR schreiben will und dass am Anfang der Geschichte Anjas Mutter verhaftet wird. Was würde mit Anja passieren? Ich habe angefangen über Heime in der DDR zu recherchieren und so bin ich auf Torgau gekommen.
War Ihnen schon beim Schreiben von „Weggesperrt“ klar, dass die Geschichte weitergehen wird?
Grit Poppe:
Nein. Bei vielen Lesungen wurde ich nach dem Schicksal von Gonzo, der Freundin von Anja aus „Weggesperrt“, gefragt, die ja ein noch härteres Schicksal hatte und in der Dunkelzelle landete. So kam ich auf die Idee auch diese Geschichte aufzuschreiben.
Was hat Sie von den Erzählungen der ehemaligen Insassen von Torgau am meisten erschüttert?
Grit Poppe:
Ihren Schmerz zu spüren in manchen Augenblicken. Die Tatsache, dass so eine Behandlung in Kindheit und Jugend lebenslängliche Auswirkungen hat.
Hat man einen oder mehrere der damals Verantwortlichen dieser Erziehungsanstalt heute zur Verantwortung (Bestrafung) ziehen können?
Grit Poppe:
Nein. Es wurde versucht, Margot Honecker anzuzeigen, die verantwortliche Volksbildungsministerin der DDR. Vergeblich. Sie lebt heute in einer Villa in Chile und bezieht eine hohe Rente vom deutschen Staat – während viele ihrer Opfer sich mit Hartz IV oder einer minimalen Frührente begnügen müssen.
Auch die wenigen Versuche Erzieher zur Rechenschaft zu ziehen, verliefen mehr oder weniger im Sande.
Man begegnet heute immer wieder mit der sogenannten „Ostalgie“ seltsamen Erscheinungsformen und Darstellungen „positiver“ Seiten der DDR.
Wie reagieren Sie persönlich darauf?
Grit Poppe:
Ich versuche mit meinen Büchern „Weggesperrt“ und „Abgehauen“ dem entgegenzuwirken und aufzuklären über Geschehnisse in der DDR, die wenig oder gar nicht bekannt waren und z. T. noch sind.
Sie schreiben auch Bücher mit Fantasyelementen, wie z.B. „Anderswelt“ oder „Käpten Magic“.
Werden Sie nach den Erfolgen der realistischen Jugendromane „Weggesperrt“ und „Abgehauen“ weiterhin ihren Schwerpunkt auf politische-aufklärende, realistische Inhalte legen oder freuen sie sich darauf, die Phantasie wieder spielen zu lassen?
Grit Poppe:
Beides. Das nächste Buch – „Monty Vampir“ (dtv junior) – , das im November erscheinen wird, ist eine phantasievoll-lustige Geschichte für Kinder ab 8, die auch fortgesetzt werden soll. Sich Abenteuer für die jüngsten Leser auszudenken macht ja auch Spaß und ich hoffe, dass sich das überträgt aufs Publikum und die Kleinen sich gut unterhalten fühlen.
Natürlich will ich auch weiter dranbleiben an den realistischen Stoffen – und nach Möglichkeit weiterhin mit Zeitzeugen zusammenarbeiten, um so authentisch wie möglich zu erzählen.
Und jetzt auch für Sie die drei bekannten Fragen zum Schluss:
Wann schreiben Sie? (morgens, mittags, abends)
Grit Poppe:
Meist morgens bis nachmittags.
Wie schreiben Sie? (Laptop, per Hand, PC)
Grit Poppe:
Am PC.
Wo schreiben Sie? (Schreibtisch, Küchentisch, Baumhaus, überall)
Grit Poppe:
In meinem Arbeitszimmer. Ein Baumhaus hab ich leider nicht. 😉
Liebe Grit Poppe, ich danke Ihnen herzlich für Ihre Zeit und Ihre ausführlichen, interessanten Antworten und wünsche Ihnen für alle weiteren Bücher und Projekte viel Erfolg!
Sabine Hoß
Grit Poppe:
Dankeschön!