Eine Autorin, die zu den Besten im Genre Kinder- und Jugendbuch zählt, ist Kirsten
Boie, geboren am 19.03.1950 und im Umland von Hamburg lebend. Zum Schreiben ist
sie vor 30 Jahren aus der Not heraus gekommen, als das Hamburger Jugendamt ihr nach
der Adoption ihres ersten Kindes untersagte, weiterhin als Lehrerin zu arbeiten. Ihr erstes Buch „Paule ist ein Glücksgriff“ wurde sofort ein großer Erfolg und wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet, gefolgt von vielen, vielen weiteren Werken, wie z.B. „Die
Medlevinger“ (2004), der erste Band von „Skogland“ (2005), „Alhambra“ (2007),
der Folgeband „Verrat in Skogland“(2008) und „Ringel, Rangel, Rosen“ (2010).
(Alle Oetinger). Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der über 60 Bücher von Kirsten Boie, die auch in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Doch neben dem Schreiben engagiert sich die Autorin auch intensiv in der Leseförderung und hat zu diesem Thema ebenfalls viele Vorträge gehalten und Aufsätze zur Kinder- und Jugendliteratur geschrieben. Neben den vielen preisgekrönten Büchern erhielt die Autorin 2007 den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Gesamtwerk , 2008 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach, im September 2011 wurde ihr Roman „Ringel, Rangel, Rosen“ mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet und am 04.Oktober 2011 erhielt die Autorin das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Auf der Frankfurter Buchmesse 2011 fand ich nach einer Lesung aus „Ringel, Rangel,
Rosen“ Gelegenheit, mich kurz mit der Autorin auszutauschen.
Ihr Terminkalender auf der Frankfurter Buchmesse ist dicht gefüllt, trotzdem findet
die sympathische Autorin in einer Ecke des Oetinger Standes Ruhe und Zeit für ein Gespräch. Kirsten Boie strahlt trotz der Terminhektik eine charmante Freundlichkeit aus, die sich während des konzentrierten Gesprächs nur ungern stören lässt.
Neugierig war ich zu erfahren, ob die Autorin eher strukturiert arbeitet, sich am Anfang
jeder neuen Idee ein festes Schema zu Handlungsverlauf und Charaktere macht oder sich eher von Beginn an und während des Schreibprozesses treiben lässt. „Ich bin eine Mischform“, antwortete Frau Boie mit einem Schmunzeln. „Ich habe am Anfang eine Idee, das kann ein Thema sein, dann habe ich aber noch keine Geschichte. Ich kann aber auch nur einen Satz haben oder den Anfang einer Geschichte haben, was natürlich zu einer vollkommen unterschiedlichen Form des Schreibens führt. Aber irgendwann ganz früh, selbst wenn ich mit den ersten Sätzen gerade angefangen habe, weil sie mir gerade eingefallen sind und ich noch gar nicht richtig weiß, wie es weitergeht, setzte ich mich zu einem Brainstorming mit einer Mindmap hin. Dazu gehören Recherchen, eine Konzepterstellung mit Stichworten, ein stichwortartiger Ablaufplan – und beginne zu schreiben. Doch entlang dieses Planes verändert sich im Schreibprozess immer noch ganz viel. Aber ich muss erst einmal eine Grundstruktur haben, damit ich weiß, wie es geht, selbst wenn ich davon später abweiche.“
Die schreibende Zunft kennt die Situation der geregelten, kreativen Schreibtischarbeit, alleine und daheim im stillen Kämmerlein. Ich wollte von Kirsten Boie wissen, wie sie sich für diese Arbeitsweise immer wieder neu motiviert bzw. diszipliniert. „Es ist einfach so, dass ich mich jeden Tag zwischen 7:00 und 8:00 Uhr morgens an den Schreibtisch setze. Andere Leute müssen auch zur Arbeit gehen und so beginne auch ich regelmäßig den Arbeitstag, das ist einfach so und deswegen muss ich mich nicht unbedingt jeden Tag neu
motivieren.“ „ Ich habe oft keine Lust zu schreiben“, gibt die erfolgreiche Autorin offen zu, „weil ich müde bin oder mir andere Dinge durch den Kopf gehen. Aber ich lese immer noch einmal durch, was ich am Tag zuvor geschrieben habe, überarbeite das und rutsche dabei wieder in den Schreibfluss und bin erneut in der Geschichte drin.“ Auf meine Frage, ob sie ideenlose Zeiten kennt, eigentlich ein Buch schreiben sollte, dafür aber keinen zündenden Einfall hat, antwortete Kirsten Boie, dass sie nie solche Verträge abschließt, die sie unter Druck setzen könnte. „Es ist immer ausnahmslos so, dass ich eine Idee habe und daraus schreibe ich ein Buch. Erst wenn ich es zu Ende geschrieben habe, übergebe ich
es dem Verlag. Anders kann ich gar nicht arbeiten, weil ich immer die Möglichkeit haben muss, aufzuhören, auch wenn ich schon sehr lange an einem Manuskript gearbeitet habe und trotzdem irgendwann erkenne, dass ich damit nicht weiterkomme.“
Aufmeine Frage, ob man heute anders für Kinder schreiben muss wie vor 30 Jahren, um die Zielgruppe zu erreichen, denkt Frau Boie nach. „Die Kinder sind heute schon früh sehr medienerfahren, das heißt, sie haben viel höhere Erwartungen und Bücher müssen viel mehr leisten, um sich durchzusetzen. Wenn Kinder in der Schule mit 6, 7 Jahren zum ersten Mal vorgelesen bekommen, also schon viele, viele Stunden fern gesehen und vor PC und Spielekonsolen gesessen haben, sind viele oft gar nicht mehr in der Lage, wenn sie nur einen Text hören, innere Bilder zu entwickeln. Aus diesem Grund gibt es auch so große Unterschiede zwischen den Kindern. Immer mehr Eltern wird bewusst, wie wichtig das frühe Vorlesen ist und das auch tun. Für diese Kinder kann man eigentlich so schreiben, wie man das auch früher schon getan hat. Für die andere Gruppe ist das deutlich schwieriger.“
Besonders im sogenannten All-Age-Bereich, der ja auch die jugendliche Altersgruppe abholen soll, sieht die Autorin mit Besorgnis die Entwicklung, dass immer stärker heftige Gewaltszenen beschrieben werden, was sich im Laufe der letzten Jahre immer gesteigert hat, statt dies mit Komplexität der Handlung oder psychologischer Spannung zu kompensieren. Sie ist gespannt über die Entwicklung, denn irgendwann wird auch hier eine Grenze erreicht sein.
Ich wollte wissen, ob sich im Laufe der Entwicklungen auch ihr eigener Schreibstil verändert hat. „Ich glaube, der ändert sich permanent, ohne zu wissen, welche Einflüsse eine Rolle spielen“, so Frau Boie. „Bücher wie „Skogland“ oder „Alhambra“ hätte ich sicher nie unter dem Einfluss der All-Age Bücher geschrieben. Man ist eingebettet in gewissen Entwicklungen und nimmt diese für sich auf.“
Die Autorin ist auch eine sehr engagierte Leseförderin mit zahlreichen Projekten.
Dabei sind es nicht unbedingt immer nur die sozial schwachen Familien, in denen nicht mehr vorgelesen wird und Wohnungseinrichtungen ohne Bücherregale zu finden sind. Ich
wollte von ihr wissen, welche Mittel wir investieren müssen, um diese Eltern zu ermuntern, wieder vorzulesen und ihren Kindern einen Zugang zu Büchern und Literatur zu verschaffen. „Das wird ganz schwierig“, so die spontane Antwort von der Autorin. „Wir haben es hier mit Eltern zu tun, die selber schon lange nicht mehr lesen. Die trauen sich manchmal gar nicht, auch wenn sie allerbeste Absicht haben. Ich würde immer versuchen, zweispurig zu fahren. Das eine ist, die Eltern direkt zu ermutigen mit verschiedenen Projekten wie beispielsweise „Buchstart“ (in Hamburg). Andererseits wäre es naiv zu glauben, dass es damit alleine zu schaffen ist. Es ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe und die muss institutioniert und auch von der Gesellschaft bezahlt werden, sonst wird es nicht funktionieren. Im Schulbereich muss sehr viel mehr getan werden und wir brauchen mehr kostenfreie Kitaplätze und qualifizierte Ausbildungen für dieses Thema. Hier gibt es noch viel zu tun.“
Zum Stichwort digitale Bücherwelt und E-Book-Reader antwortete Kirsten Boie, dass dies ein „ganz schwieriges Thema sei“. „Ich möchte es nicht von vorneherein ablehnen. Ich würde mir aber wünschen, dass es immer richtige Bilderbücher geben wird und nicht die animierten Apps dominieren. Ich glaube nicht, dass sich die E-Books wirklich durchsetzen werden, weil sie so unglaublich viel verkauft werden müssen, dass Autoren überhaupt davon leben können, wenigstens mit einer „Teilberufstätigkeit“. Das sollte man auch berücksichtigen. Meinetwegen kann beides nebeneinander existieren, weil es auf Reisen auch seine Vorteile hat.“
Die Autorin schreibt für Kinder und Jugendliche, ohne sich dabei von bestimmten
Themen festlegen zu lassen. Mit „Monis Jahr“ hat sie ein erstes Zeitdokument geschrieben, dass die Lebensumstände der 50er Jahre mit ihren verklemmten Moralvorstellungen, Werten bis hin zu Mode und Frisur liebevoll und treffsicher aufleben lässt. „Ringel, Rangel, Rosen“ schließt mit den frühen 60er Jahren hier an. Dieses Buch scheint wie aus einem Guss geschrieben zu sein und hebt sich als literarisches Kunstwerk deutlich ab. Ich war neugierig zu erfahren, ob die Geschichte schon sehr lange im Kopf gewesen ist und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet hat, auf Papier niedergeschrieben zu werden? „Ja“, gibt die Autorin zu, „ das habe ich ganz schnell geschrieben, nachdem ich das Konzept hatte. Die beiden Einzelthemen hatte ich schon lange im Kopf und in dem Augenblick, in dem mir bewusst geworden ist, dass der Eichmann-Prozess mit der Zeit der Hamburger Sturmflut zusammenpasst, ergab sich alles andere.“ Ist dieses Buch neben der Reflektion und dem tradieren früherer Zeiten auch ein Zeichen für das eigene Älter werden? „Das glaube ich schon“, antwortete Kirsten Boie ehrlich. „Ich glaube schon, dass man sich damit wieder verstärkt mit seiner eigenen Lebensgeschichte auseinander setzt. Solange die eigenen Kinder Kinder sind, beschäftigt man sich mit deren Kindheit. Dadurch angestoßen später auch wieder mit seiner eigenen. Es kommen immerwieder alte Erinnerungen hoch, die auf diese Weise verarbeitet werden können.“
In diesem Zusammenhang wolle ich wissen, wie die Autorin die Hamburger Sturmflut
erlebt hat. „Ich habe das nicht als Betroffene erlebt“, so Kirsten Boie. „ Ich bin mit meinem Vater zu den Sammellagern gefahren und habe dort Kleidung und Wolldecken abgegeben und war von den Erlebnissen während dieser Tage ungeheuer beeindruckt. Verwandte von mir haben in dem Stadtteil Wilhelmsburg gewohnt und nach der Sturmflut ist in der Wohnung über uns eine Familie mit vier Kindern eingezogen, die die die Sturmflut auf dem Dach eines Behelfsheimes überstanden haben.“
Kirsten Boie hat schon viele Auszeichnungen für ihre Bücher erhalten. Ganz aktuell der
„Gustav-Heinemann-Friedenspreis“ für „Ringel, Rangel, Rosen“. Welchen Wert hat
diese Auszeichnung für die Autorin? „Über diese Auszeichnung habe ich mich schon sehr gefreut“, so die Schriftstellerin. „Vor allen Dingen, wenn man einen Preis erhält, mit dem man so gar nicht rechnet, weil ich ihn nie auf dieses Buch gezogen hätte“, so die Autorin mit einem Lächeln.
Bei der letzten Frage wollte ich wissen, ob der Deutsche Jugendliteraturpreis, der
ja am gleichen Tag noch verliehen wurde, bei Verlagen, Buchhandlungen und letztlich auch beim Leser die nötige Aufmerksamkeit erhält. „Nein“, so die direkte Antwort von der Autorin. „Das mag man sicherlich bedauern. Der Preis zeichnet viele Bücher aus, bei denen man diskutieren kann, ob sie überhaupt die Zielgruppe erreichen. Andere Bücher werden ausgezeichnet, die sich in ihrer Form ein wenig abheben und mit dem Preis die nötige Aufmerksamkeit erhalten. Der Preis sollte sich nur nicht dem Markt überlassen und nur das, was sich am besten verkauft bekannt machen. Es sollte für Kinder sein, wenn es ein Kinderbuch ist und trotzdem einem gewissen literarischen Anspruch genügen und
ein Gegengewicht zum Markt präsentieren. Die Präsenz in Buchhandlungen und letztlich beim Leser ist kaum vorhanden.“
Leider ging die Gesprächszeit mit der unkomplizierten, offenen Autorin wie im Fluge
vorbei. Trotzdem nahm sie sich noch Zeit für die berühmten drei Fragen zum Schluss:
Wann schreiben Sie? (morgens, mittags, abends)
Kirsten Boie:
Morgens
Wie schreiben Sie? (Laptop, PC, per Hand)
Kirsten Boie:
Laptop, per Hand
Wo schreiben Sie? (Baumhaus, Arbeitszimmer, Küchentisch)
Kirsten Boie:
Die handschriftliche Brainstormingphase am Esstisch, später im Arbeitszimmer am Schreibtisch, aber woanders geht auch.
Liebe Kirsten Boie, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und das sympathische Interview auf
der Messe und wünsche Ihnen alles, alles Gute für viele weitere erfolgreiche Projekte zwischen Buch und Deckel!
Sabine Hoß