Herr van Dijk, Sie waren zuerst in Hamburg Lehrer und danach Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam. Was hat Sie bewogen, den sicheren Lehrerstatus aufzugeben?
Ich hatte schon immer mehr Fern- als Heimweh. Es reizte mich bereits als junger Mensch zu erfahren, wie Leben auch ganz anders möglich sein kann. Als ich dann die konkrete Möglichkeit sah, an einer Stelle in dieser Welt etwas Sinnvolles beitragen zu können, habe ich diese Chance wahrgenommen. Natürlich gab es auf dem Weg auch Unsicherheiten und Enttäuschungen. Bereut aber habe ich es nie.
Wie lange waren Sie Mitarbeiter im Anne-Frank-Haus und was waren Ihre Aufgaben dort?
Ich war Mitarbeiter im Amsterdammer Anne Frank Haus von 1992 bis 1999. Zu meinen Hauptaufgaben gehörte es, mit Lehrer*innen aus verschiedenen europäischen Ländern Unterrichtsideen zu entwickeln, wie heute etwas gegen Rassismus und Diskriminierung getan werden kann. Wir haben oft gefragt: „Was würde Anne Frank heute tun, wenn sie den Nazi Terror überlebt hätte…?“
Was waren Ihre Gründe, Amsterdam Richtung Kapstadt zu verlassen?
Gibt es feste Rhythmen, in denen Sie zwischen Ihren beiden heutigen Lebensmittelpunkten Kapstadt und Amsterdam pendeln oder nur bei bestimmten Anlässen, Projekten?
Bis 1994 hatte ich Einreiseverbot in Apartheid-Südafrika. 1997 gewann eines meiner Bücher den Jugendliteraturpreis im Nachbarland Namibia. Damals besuchte ich dann auch Südafrika auf Einladung des Goethe Instituts und lernte Südafrikaner*innen kennen, die früher gegen Apartheid protestiert hatten. Bei einem der Folgebesuche trafen wir junge Leute in einem der ärmsten Townships bei Kapstadt, die sich damals gegen die Krankheit Aids engagierten. Hier mithelfen zu dürfen, sehe ich bis heute als ein besonderes Geschenk.
2001 bin ich mit meinem Mann von Amsterdam nach Kapstadt umgezogen. Zu Lesungen und anderen Veranstaltungen kam ich bis zu Zeiten von Corona in der Regel zwei Mal im Jahr für einen Monat nach Europa, meist im Frühjahr und Herbst. Hoffentlich kann dies auch irgendwann wieder stattfinden.
2001 haben Sie unter anderem mit der Südafrikanerin Karin Chubb in einem Township bei Kapstadt die Hilfsorganisation HOKISA (Homes for Kids in South Africa) gegründet, die Kinder und Jugendliche versorgt, die ihre Eltern durch AIDS verloren haben oder selbst infiziert sind. 2002 wurde das erste HOKISA-Heim in der Nähe von Kapstadt eröffnet.
Wie viele HOKISA-Heime gibt es heute und wo?
In diesem Township Masiphumelele bei Kapstadt gibt es auf einem Gelände mit Spielplatz für alle Township-Kinder zwei Häuser – eines für Kinder und eines für Jugendliche. Menschen, die selbst so woanders arbeiten wollen, können von unseren Erfahrungen lernen, aber unser Ziel war nie eine Dachorganisation für viele Häuser zu sein, sondern ein mutiges Pilotprojekt, das hoffentlich andere Menschen inspiriert
Wie haben Sie die Betreuung und Arbeit mit den Kindern in den Heimen unter der mittlerweile mehr als einem Jahr andauernden Corona-Pandemie gemeistert?
Was waren die schwierigsten Herausforderungen?
Die schwierigsten Erfahrungen waren das monatelange Eingeschlossensein im „Lockdown“ für unsere Kinder und Jugendlichen – und die Angst von uns Erwachsenen, was wir machen würden, wenn mehr von uns erkranken oder gar sterben würden. Denn als Kinderhaus können wir niemals schliessen wie eine Schule. Bisher haben wir viel Glück gehabt – alle, die bei uns erkrankten, haben überlebt und sind wieder bei uns.
Zu den schönen Erfahrungen zählt aber sicher auch, wie alle mitgeholfen haben, damit wir unnötige Risiken vermeiden und auch immer wieder schöne Dinge trotz allem im Alltag möglich sind – von Geburtstagsfeiern bis Spielen und Basteln und Kochen. Unsere Jugendlichen waren oft wunderbar in ihrer Zuwendung gegenüber den Kleinen. Wir hoffen, dass es auch in Südafrika bald ausreichend Medikamente gibt, um alle Menschen impfen zu können.
Viele weitere Informationen zu dieser großartigen Organisation, die auf Spenden angewiesen ist und man sicher sein kann, dass diese dort ankommen, wo sie benötigt werden, kann man hier sowie hier nachlesen.
Mit Ihrem aktuellen Buch „Kampala – Hamburg“ beschreiben Sie eindrücklich die Lebensgefahr, mit der Homosexuelle in Uganda leben müssen.
Was müsste in der Gesellschaft und Politik passieren, dass man in einem Land wie Uganda, von denen es aber noch viele, viele andere Länder weltweit gibt, seine sexuelle Identität nicht unter Lebensgefahr und Todesstrafe gesetzt ausleben darf?
Hat die Gesellschaft in diesen Ländern eine Chance, Einfluss auf eine positive Veränderung zu nehmen?
Es ist hier wichtig zu wissen, dass es in Uganda nicht der Islam ist, den Fundamentalisten missbrauchen für ihren Hass gegen sexuelle Minderheiten, sondern christliche Kirchen, auch mit grossem Einfluss aus den USA. Gegenwärtig gibt es weiter Versuche, auch die Todesstrafe gegen homosxuelle Frauen und Männer einzuführen. In Uganda herrschen politisch zunehmend diktatorische politische Bedingungen, wo jede Opposition gefährlich ist. Umso ermutigender ist es zu sehen, wie viele junge Menschen sich unter grösster Gefahr für Menschenrechte und Demokratie engagieren. Sie verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung. Auch darum habe ich dieses Buch geschrieben, wodurch viele zum ersten Mal von diesen Bedingungen erfahren. Heute, jeden Tag – und nicht damals in der Nazi Zeit!
Was am Ende erfolgreich sein wird, vermag niemand zu sagen. Aber wegsehen ist keine Alternative.
Sie leben in Kapstadt. Wie frei dürfen Sie Ihre Homosexualität in dieser Stadt leben?
Mein Mann und ich machen aus unserer Beziehung kein Geheimnis… das ginge auch gar nicht im Kontext des Kinderhauses und Townships, wo Menschen einander kennen und sicher Ausländer wie wir anfangs mit besonderer Neugierde betrachtet wurden.
Positiv ist einerseits, dass Südafrika das erste Land auf dem afrikanischen Kontinent war, in dem in der Verfassung steht, dass Menschen nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werde dürfen.
Gleichzeitig hinkt die Realität diesem Verfassungwunsch oft hinterher. Es gibt ein fürchterliches Wort im südafrikanischen Englisch – mit „corrective rape“ beschreiben Macho-Männer in Townships, dass lesbisches Verhalten angeblich durch „korrigierende Vergewaltigung“ geheilt werden könne.
Mein Mann und ich sind von homophoben Attacken bisher verschont geblieben, vielleicht auch weil wir aktive Mitglieder in mehreren Initiativen gegen extreme Armut und für mehr Gerechtigkeit sind. Dass das nicht immer halten muss, ist uns durchaus bewusst.
Haben Sie sich schon einmal mit homophobem Mobbing auseinandersetzen müssen und wenn ja, wie haben Sie sich dagegen gewehrt?
Als junger Mann wurde ich mit einem Freund in Hamburg in einer Einkaufsstrasse am frühen Abend von betrunkenen Männern attackiert, der Freund auch so schwer verletzt, dass er ins Krankenhaus musste. Obwohl alle Passanten nur zuschauten und niemand half oder wenigstens die Polizei rief, erinnere ich es bis heute als gut, dass wir uns gewehrt haben und zurückschlugen, wie wir nur konnten. Dadurch blieb zumindest ein Rest Würde.
Nachdem mein Buch „Verdammt starke Liebe“ 1991 erschienen war, wurde einmal in meine Hamburger Wohnung eingebrochen, vieles verwüstet, aber nichts gestohlen. Auf einen Zettel war geschmiert: „Wenn du weiter solche Schweinereien schreibst, kommen wir wieder.“ Eine Anzeige bei der Polizei brachte nichts. Aber so ein Einbruch wiederholte sich auch nicht zum Glück.
Heutzutage werden Homosexuelle durchaus nicht offen aber dennoch homophob im beruflichen Bereich gemobbt. Was würden Sie diesen Menschen raten, die auf Unterstützung von Kolleg*innen oder Betriebsrat o.ä. nicht wirklich zählen können?
Es gibt sicher keinen allgemeingültigen Rat, weil in der einer Situation sollte es darum gehen, an die Öffentlichkeit zu gehen und um mehr Unterstützung zu werben… in einer anderen kann nur ein Rückzug eigenen Seelenfrieden wieder herstellen. Vielleicht ist am wichtigsten, auf die eigene Würde zu achten und sie von niemandem im Kern beschädigen zu lassen (höchstens am Rand, was schon schlimm genug ist).
In Deutschland gibt es zum Glück mehr und mehr Öffentlichkeit, die homophobes Mobbing nicht mehr akzeptiert. Wo sogar ein Betriebsrat nicht seine Pflicht des Arbeitnehmer-Schutzes leistet, sollte die entsprechende Gewerkschaft zuimindest informiert und um Hilfe und Eingreifen gebeten werden.
Die in dem Buch beschriebene Fluchtroute, die David über Kigali in Ruanda, Lagos in Nigeria und Istanbul, Istanbul, Türkei genommen hat, um nach Deutschland zu kommen, ist das eine „klassische Fluchtroute“ oder eine von vielen?
Davids Flucht über Ruanda, Nigeria und dann die Türkei ist untypisch, weil sie finanzielle Mittel und gute Kontakte (wie über seinen Vater, der Arzt ist) vermittelt werden. Trotz dieser besonderen Bedingungen ist Davids Flucht nicht ungefährlich, wie die Geschichte vor allem in Lagos zeigt.
„Kampala – Hamburg“ ist in dem kleinen aber feinen Querverlag in Berlin erschienen, Deutschlands erster schwuler-lesbischer Buchverlag. Haben die großen, klassischen Kinder- und Jugendbuchverlage Ihr Manuskript abgelehnt oder haben Sie sich bewusst für diesen Verlag entschieden?
Es ist großartig, dass die Jugendjury „Kampala – Hamburg“ zum Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert haben. Ich habe den Eindruck, dass es allgemein nicht viele wirklich überzeugende Romane für Jugendliche gibt, die sich mit Homosexualität auseinandersetzen. Von deutschen Autoren liest man meist klischee-behaftete Geschichten, die die Vorstellung von Heterosexuellen spiegeln, aber nicht das Innenleben von gleichgeschlechtlich Liebenden.
Glauben Sie, dass dieses Thema auch von den klassischen, großen deutschen Kinder- und Jugendbuchverlagen eher negiert wird und ebenso schwule wie lesbische Autor*innen sich nicht trauen, aus ihrer Sicht für Jugendliche zu diesem Thema zu schreiben, was gerade für dieses Alter als Orientierung, Mutmacher, zu sich selbst zu stehen, so wichtig wäre??
Im Vergleich zu vor 30 oder 40 Jahren bin ich schon froh, wie viele ausgezeichnete Autor*innen und Verlage heute unkonventionelle, mutige und spannende Romane zu queeren Themen für Kinder und Jugendliche veröffentlichen. Ich denke hier zum Beispiel an meine Kolleg*innen Karen-Susan Fessel oder Andreas Steinhöfel.
Ich arbeite seit über 25 Jahren gern mit dem Berliner Querverlag, habe aber zum Beispiel auch im Wuppertaler Peter-Hammer-Verlag, der eher den Fokus auf afrikanischen und lateinamerikanischen Themen hat, ein Jahr eher das Kinderbuch „Bis bald, Opa!“ veröffentlicht, im dem es um eine Regenbogen-Familie in Südafrika (und Deutschland) geht.
Sie haben 2002 in Ihrem Buch „Überall auf der Welt“ Coming-out-Geschichten von verschiedenen jungen Menschen aus der ganzen Welt erzählen lassen. Diese jungen Leute stammen z.B. aus Russland, der Türkei, Surinam, Südafrika, Marokko, China und auch aus Deutschland.
Inwiefern hat sich in den 20 Jahren bis heute eine positive Entwicklung in der Akzeptanz und Toleranz gegenüber Homosexuellen in diesen Ländern entwickelt und woran ist sie festzumachen??
Und wenn nein, woran liegt das?
Die weltweiten Eintwicklungen sind leider äusserst gegensätzlich: In einigen Ländern (wie vor allem in Teilen von Europa und Nordamerika) hat die Achtung gegenüber sexuellen Minderheiten nicht nur zugenommen, sondern es sind auch Gesetze verabschiedet worden, die die diese neuen Freiheiten stabilisieren. In anderen Teilen der Welt hat die Unterdrückung und Verfolgung leider sogar zugenommen. So gibt es in 13 Ländern die Todesstrafe für Homosexuelle, in über 70 Ländern gibt es strenge Gesetze mit bis zu lebenslänglichen Haftstrafen, davon in 44 Ländern auch gegen lesbische Frauen. Wir sind weit davon entfernt, uns ausruhen zu können.
Die Ursachen sind vielschichtig, oft geht die Unterdrückung von sexuellen Minderheiten mit der grundsätzlichen gegenüber Frauen einher. Aber auch extreme soziale Ungleichheiten in den Gesellschaften spielen oft eine Rolle, wobei dann Minderheiten, auch sexuelle, als Sündenböcke herhalten müssen.
In Deutschland dürfen wir per Gesetz gleichgeschlechtliche Liebe offen zeigen und mittlerweile „dürfen“ wir auch den Heterosexuellen gesetzlich gleichgestellt heiraten.
Trotzdem kämpfen Schwule und Lesben auch hierzulande nach wie vor für Toleranz, Akzeptanz und um Gleichberechtigung. Besonders schwer sind die Ausgrenzung und Mobbing in verschiedenen beruflichen Bereichen, z.B. in der Schauspielerei oder in kirchennahen Institutionen.
Woran liegt es nach Ihrer Meinung, dass homosexuelle Menschen selbst heute in der scheinbar so offenen deutschen Gesellschaft immer noch gegen homophobe Vorurteile und Ausgrenzung kämpfen müssen?
Wir müssen uns sicher auch fragen in Ländern wie Deutschland: Warum sind manche Menschen so voller Hass auf jene, die anders lieben ? Sind sie vielleicht selbst unzufrieden mit ihrem (Liebes-) Leben ? Glückliche oder zumindest zufriedene Menschen verachten selten Menschen, die wie auch immer „anders“ sind.
Was immer die Gründe individuell sein mögen: Wir müssen uns weiter gegenseitig Mut machen und auch praktisch (z.B. juristisch oder publizistisch) unterstützen.
Hinzu kommt auch, dass immer noch viele junge Menschen zunächst ihre sexuelle Identität sehr einsam erleben, denn die eigene Familie ist nicht automatisch verständnisvoll oder gar Teil der Minderheit, wie dies für andere (z.B. religiöse oder kulturelle) Minderheiten zutrifft.
Wenn man die benachbarten Niederlande besucht, erfährt man in nahezu allen Bereichen einen offenen, liberalen und nahezu herzlich-willkommenen Umgang mit gleichgeschlechtlich Liebenden.
Ist es so, dass in den Niederlanden scheinbar vieles selbstverständlich scheint, was bei uns nach wie vor sehr schwierig ist?
Leider hat auch in den Niederlanden die Offenheit und Liberalität abgenommen – und auch wir haben im Parlament in Den Haag inzwischen rechtsnationale Parteien, die nichts mehr mit Europa zu tun haben wollen.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich für Ihre Arbeiten in Südafrika, für die Homosexuellen in Uganda respektive aller anderen Länder, in denen sie verfolgt und getötet werden und für die vordergründig offene Gesellschaft in Deutschland wünschen?
Für Südafrika wünsche ich mir, dass noch zu meinen Lebzeiten die extremen Unterschiede zwischen einer Minderheit sehr reicher und einer Mehrheit extrem armer Menschen zugunsten von mehr Gerechtigkeit überwunden wird.
Für unsere jungen Freund*innen in Uganda wünsche ich vor allem gesetzliche Sicherheiten und eine demokratische Regierung, die sie hört.
Für Deutschland wünsche ich mir, dass Menschen auch mehr die Probleme anderer wahrnehmen und erleben und dass anderen zur Seite zu stehen, auch das eigene Glück vergrössern kann.
Lieber Lutz van Dijk, ich danke Ihnen aus dem gerade so fernen Deutschland ganz herzlich für Ihre Offenheit und Zeit und wünsche Ihnen für all Ihre Arbeiten und Ihr vielfältiges Engagement weiterhin ganz viel Erfolg.
Interview (c) Sabine Wagner