Susan Kreller ist 1977 in Plauen geboren und studierte Germanistik und Anglistik, über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik promovierte sie. Mit ihrer Familie lebt sie in Bielefeld und wenn Susan keine Bücher schreibt, arbeitet sie als freie Journalistin. Ihr erster Roman „Elefanten sieht man nicht“, in dem es um häusliche Gewalt gegen Kinder und das Schweigen der Umwelt geht, ist im März im Carlsen Verlag erschienen.
Für „Bücher leben!“ nahm sich die sympathische Autorin gerne für ein ausführliches Mail-Interview Zeit.
Susan, für Deinen ersten Roman hast Du ein brisantes Thema gewählt.
Wie bist Du auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen?
Bist Du selber schon Zeugin gewalttätiger Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder geworden?
Susan Kreller:
Ausschlaggebend waren die vielen Zeitungsberichte über Kinder, die Misshandlungen nicht oder nur knapp überlebt haben. Ich habe diese Artikel kaum ertragen können, zum Beispiel die Berichte über das Mädchen Jessica, das in Hamburg verhungert ist. Und es waren immer zwei Dinge, die mich beschäftigt haben, zum einen, dass diese Kinder vollkommen allein waren, so allein, wie man sich das gar nicht vorstellen kann. Zum anderen habe ich mich gefragt: Was hätte ICH denn getan, wenn ich den Verdacht gehabt hätte, dass derart Schlimmes in meiner Nachbarschaft passiert? So oft ist die Rede von mangelnder Zivilcourage, aber wie geht das eigentlich: Hinsehen? Und wie kann man handeln? So ist das Buch entstanden.
Hast Du bewusst diese miefig-spießige Atmosphäre der dörflichen Siedlung gewählt, um zu demonstrieren, dass es nicht nur in der sogenannten Anonymität der Städte sondern auch in einer Gemeinschaft, in der eigentlich jeder alles vom anderen weiß, dieses Schweigen der Wissenden gibt?
Susan Kreller:
Ja, ich habe mich ganz bewusst für das (scheinbar) genaue Gegenteil der anonymen Plattenbausiedlung entschieden. Vor allem deshalb, weil Kindesmisshandlung ÜBERALL stattfinden kann, sogar in der gepflegtesten, friedlichsten aller Siedlungen. Ich wollte aber auch zeigen, dass es gerade in kleinen, festen Gemeinschaften ungeheuer schwierig ist, Verfehlungen Anderer anzusprechen. Man hat viel zu verlieren, die gemeinsame Vergangenheit, das Ansehen innerhalb dieser Gemeinschaft, das ganze vertraute Alltagsleben.
Die Protagonistin Mascha wählt in ihrer Hilflosigkeit und durch den Mangel, sich mit anderen, auch Gleichaltrigen, beraten, austauschen zu können, eine Lösung, die im Grunde keine ist. Woran sich vielleicht der ein oder andere Leser stört.
Ich denke, die Umsetzung von Maschas Hilfe sollte auch nicht perfekt sein?
Susan Kreller:
Gerade weil es so unsäglich schwierig ist, in Fällen von beobachteter Kindesmisshandlung das Richtige zu tun, habe ich meine Protagonistin etwas vollkommen Falsches tun lassen. Ihr Handeln entspringt dem kindlichen Wunsch, Menschen aus ihrer schlechten Welt herauszunehmen und in eine kleine, geschützte Welt zu befördern. Dieser Wunsch ist bei Mascha ganz besonders stark, als sie die Kinder im blauen Haus friedlich schlafen sieht, und von diesem Moment an verrennt sie sich und kommt nicht mehr raus aus ihrer verzwickten Situation. Es funktioniert nicht, kann nicht funktionieren. Es war mir von Anfang an klar, dass da nicht jeder Leser mitgeht, aber ich habe mich ganz bewusst für diesen überzogenen Handlungsverlauf entschieden.
Die Hoffnung dieses Buches ist, dass man sensibler auf entsprechende Anzeichen gewalttätiger Übergriffe auf Kinder wird – und den Mut hat, nicht wegzusehen. Ein realistischer Wunsch?
Susan Kreller:
Realistisch vielleicht insofern, als man durch Hinsehen und Zivilcourage sehr, sehr wenigen Kindern zu einem Leben verhelfen kann, das ein bisschen besser als vorher ist. Aber auch das ist ja nicht immer der Fall, da die Hilfe ja – über Umwege – oft in Richtung Pflegefamilie und Heim geht, was einige Kinder auf eine andere, neue Weise unglücklich machen könnte. Fast keine Art des Eingreifens ist hundertprozentig richtig, das ist es ja, was alles so schwierig macht. Umso mutiger ist es, diese Kinder TROTZDEM nicht alleine zu lassen, ihnen zu zeigen: da ist ja noch jemand, der sich für Euch interessiert. Das Problem der Kindesmisshandlung wird man damit nicht aus der Welt schaffen, in vielen Familien reicht das ja Generationen zurück, die man erst mal alle rückwirkend heilen müsste. Und die jüngsten Umfragen zeigen auch, dass Schläge noch in erschreckend vielen Familien üblich sind.
Trotzdem glaube ich daran, dass man einige Kinder retten kann. Und jedes Kind, dem geholfen wird und dem es dann ein wenig besser geht, ist ein Triumph.
Falls Du schon Lesungen mit dem Buch gehalten hast, wie waren die Reaktionen – Welche Fragen oder Bemerkungen werden Dir häufig von Jugendlichen gestellt?
Susan Kreller:
Die meistgestellte Frage ist sicherlich, warum die Kinder Max und Julia heißen. Mittlerweile frage ich ganz souverän zurück: Heißt du zufällig Max? Heißt du Julia? Es hat bis jetzt immer gestimmt.
Neulich habe ich in einer Stadtbücherei im Sauerland gelesen, vor 80 Sechstklässlern. Die haben mich mit ihren klugen, originellen Fragen schwer beeindruckt. Als ich die Schüler nach den ersten Kapiteln gefragt habe, was sie den an Maschas Stelle tun würden, um den Kindern zu helfen (sie kannten das Buch noch nicht). Von vielen kam tatsächlich der Vorschlag, man müsste soviel Zeit wie möglich mit den Kindern verbringen, damit sie kaum noch zu Hause sind. Jemand wollte sogar viele Pyjama-Partys veranstalten, um die Kinder auch nachts zu schützen. Eine Entführung hat aber niemand vorgeschlagen.
Mascha liebt die Musik von Leonard Cohen, mit der sie auch ihre Einsamkeit kompensiert. Magst auch Du diesen Sänger sehr – ist Musik wichtig für Dich??
Susan Kreller:
Ich höre die Musik von Leonard Cohen tatsächlich sehr gerne, habe mich im Buch aber für ihn entschieden, weil er gut zu einem trauernden, dokumentarfilmenden Vater passt und weil seine Musik Jugendliche eher selten anspricht. Im Buch haben seine Lieder etwas angenehm Fremdes, etwas Heilendes. Sie beschützen sowohl Mascha als auch Julia – eben weil sie aus einer anderen Welt stammen. Naja, und natürlich hat das Lied „Waiting for the Miracle“ gut zur Geschichte gepasst.
Welche Musik, welche Sänger (Gruppe) hörst Du gerne? (auch beim Schreiben?)
Susan Kreller:
Mir ist Musik wahnsinnig wichtig. Und gerade vorm Schreiben höre ich mit eigentlich immer ein paar Lieder an, um in die passende Schreibstimmung zu kommen. Im Moment ist das vor allem die Musik von Gisbert zu Knyphausen und von den beiden Bands Selig und Boy. Beim Schreiben selbst höre ich hauptsächlich Filmmusik, am liebsten von Zbigniew Preisner.
Du hast über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik promoviert, was Deine Liebe zu Sprachen zeigt. Wie hat sich dann Dein Weg zum Romanschreiben entwickelt?
Susan Kreller:
Ich habe eigentlich schon in der Schule mit dem Schreiben von Erzählungen begonnen, die Promotion war also kein Ausgangspunkt. Am Anfang habe ich noch mit viel Pathos und möglichst viel Tragik und Tod geschrieben, mittlerweile ist mir Leichtigkeit wichtig: Auch das Schreckliche lakonisch und möglichst wenig pathetisch zu formulieren, das ist es, was ich – naja – was ich zumindest anstrebe.
Englischsprachige Lyrik, deutsche Übersetzung. Dein Vorname ist Susan und nicht Susanne. Hast Du englische Vorfahren?
Susan Kreller:
Leider nicht, ich kann allerhöchstens mit einer italienischen Urgroßmutter angeben. Mein Name kam auf eher banale Weise zustande, in einer 70er-Jahre-DDR-Frauenklinik, in der meine Mutter von einer Mitarbeiterin freundlich darauf hingewiesen wurde, dass der von meiner Mutter favorisierte Name Susann nicht in deren wichtigem Namensbüchlein stünde, also auch nicht gültig sei. Also wurde ich Susan genannt und kann heute behaupten, dass ich schon als Säugling mit der DDR-Mangelwirtschaft konfrontiert wurde. Selbst Buchstaben waren damals knapp.
War es für Dich von Anfang an klar, für Kinder bzw. Jugendliche schreiben zu wollen?
Susan Kreller:
Nein, ich habe am Anfang kein Publikum im Kopf gehabt, meine Geschichten waren aber wohl hauptsächlich an Erwachsene gerichtet. Mit Kinder- und Jugendliteratur habe ich mich erst während des Studiums in Leipzig beschäftigt. Es gibt dort einen großartigen Professor für Kinder- und Jugendliteratur, und ich habe mich dann nach und nach auf diesen Bereich spezialisiert. So kam es dann auch, dass ich angefangen habe, für ein jüngeres Lesepublikum zu schreiben.
Wie bist Du diesen Roman angegangen – hast Du Dir vorher einen genauen Plan von Charakteren und Handlung gemacht oder entwickelte sich alles während des Schreibens?
Susan Kreller:
Ich plane immer alles ganz genau, skizziere den Handlungsverlauf, überhaupt jedes einzelne Kapitel, lerne meine Figuren kennen. Erst wenn das alles da ist, fange ich mit dem Schreiben an. So war es bei den „Elefanten“, und so war es auch bei allen kürzeren Texten.
War es schwer, als Jungautorin 🙂 einen Verlag zu finden – arbeitest Du mit einer Literaturagentur zusammen??
Susan Kreller:
Ich hatte das große Glück, vom Verlag angerufen zu werden. Ich hatte zuvor eine kürzere Erzählung für eine Carlsen-Anthologie beigesteuert, so hat das alles angefangen.
Hast Du noch eine Schublade voller Ideen für weitere Bücher?
Susan Kreller:
Oh ja!
Bleibst Du im realistischen, sozialkritischen Genre – oder kannst Du Dir auch etwas ganz anderes, z.B. Fantasy, Krimi vorstellen?
Susan Kreller:
Naja, ich schreibe ja auch für jüngere Kinder, und diese Geschichten sind zumindest teilweise fantastisch. Ansonsten möchte ich aber im realistischen (wenn auch nicht notwendig sozialkritischen) Genre bleiben, weil ich die anderen Genres – glaube ich – einfach nicht beherrsche. Jedenfalls nicht so, dass man mir das irgendwie abnehmen könnte. (Aber ich lese sehr gern Krimis!)
Wie sieht ein ganz „normaler“ Arbeitsalltag von Dir aus?
Susan Kreller:
Genauso. Ganz normal. Ich bringe morgens meine Tochter in den Kindergarten und hole sie am Nachmittag ab. Dazwischen schreibe ich, und manchmal, nein: oft auch noch am Abend.
Und nun zum Schluss auch für Dich meine drei letzten Fragen (auch wenn sie zum Teil bereits beantwortet wurden)
Wann schreibst Du? (morgens, mittags, abends, immer)
Susan Kreller:
Siehe oben.
Wie schreibst Du? (Laptop, per Hand, PC)
Susan Kreller:
Am liebsten am PC. Mir ist der Rhythmus beim Schreiben so wichtig, und den kriege ich am ehesten hin, wenn ich (fast) gleichzeitig denke und tippe.
Wo schreibst Du? (Arbeitszimmer, Küchentisch, Baumhaus, überall)
Susan Kreller:
In meinem Arbeitszimmer. Selten im Café, dort schreibe ich aber mit der Hand.
Liebe Susan, ich danke Dir herzlich für Deine ausführlichen und interessanten Antworten!
Ich wünsche Dir für alle weiteren Bücher und Projekte ganz viel Erfolg!
Susan Kreller:
Danke!